Toedlicher Sumpf
die nackte Brust der Sonne entgegenreckt, und schaut sie sich genau an. Ein schmaler Streifen Stoff schmiegt sich um die Hüften der Figur, die in der zum Himmel gereckten Hand einen Bogen hält. Zu ihren Füßen hockt ein Bronzehund. Marisol kommt zu mir herüber.
»Wer ist das?«, fragt sie.
»Ich weiß nicht. Was steht denn auf dem Schild?«
Nun läuft sie wieder zu der Statue hinüber.
»Diana«, ruft sie und kommt zurück. »Und wer ist Diana?«
»Diana«, wiederhole ich. »Das ist eine griechische Göttin – nein, warte. Römisch. Eine römische Göttin. Eine Jägerin. Genau, die Göttin der Jagd, glaube ich, und des Mondes. Eine Figur aus der Mythologie.«
»Was ist Mythologie?«
Wir fahren zur Oak Street, wo in einem wunderschönen Holzhaus der Maple Street Book Shop residiert – eine der Perlen von New Orleans. Die gesamte linke Hälfte ist den Kinderbüchern vorbehalten. Ich frage die Frau hinter dem Verkaufstresen, ob sie D’Aulaires Book of Greek Myth dahaben, das an der Grundschule zu meinen absoluten Favoriten gehört hat. Wenn sie uns auch im Jahr 2008 noch mit diesem klassischen Zeug kommen, soll Marisol ruhig wissen, worum es geht.
»Aber ja, natürlich haben wir das«, sagt die Frau und führt uns zum entsprechenden Regal. Sie reicht das Buch Marisol, spricht aber zu mir. »Ein wunderbares Buch, nicht? Ein echter Klassiker. Es wird Ihrer Tochter bestimmt gefallen.«
Tochter? Ich fühle mich, als hätte sie soeben einen Kreis um uns gezogen – einen unangenehm engen Kreis. Auch Marisol blickt auf.
»Sie ist meine Große Schwester«, sagt sie.
»Oh, wie nett. Deine Schwester. Das nenne ich aufmerksam.«
Was auch immer. Ich unternehme eine kleine kulturelle Intervention. »Haben Sie auch etwas über Maya- oder Azteken-Mythen?«
»Hmm. Warten Sie.« Sie geht an ein anderes Regal und schaut die Buchrücken durch. Dann dreht sie sich wieder zu uns um. »Sieht nicht so aus, als hätten wir etwas zu Ethno-Themen.« Ich verkneife mir den Hinweis, dass griechische Mythologie auch ein Ethno-Thema ist. »Aber wir können Ihnen etwas bestellen. Wollen wir eben online nachsehen, was es da gibt?«
»Das ist nicht nötig, danke. Ich besorg es mir über Amazon.« Etwas Schlimmeres kann man in einer unabhängigen Buchhandlung nicht sagen. Ich sehe die Enttäuschung in ihren Augen. Pech gehabt. Warum sollte sie mein Geld kriegen, wenn sie es noch nicht mal für nötig hält, so ein Buch am Lager zu haben? Ich zücke meine Brieftasche, um den D’Aulaire zu bezahlen.
»Du, Nola?«, sagt Marisol.
»Ja?«
»Meinst du, wir könnten nächsten Samstag ein bisschen länger machen als zwei Stunden?«
Ich halte, die Kreditkarte noch in der Hand, überrascht inne. »Klar.«
»Weil, dann könnten wir noch mehr unternehmen.« Die Verkäuferin nimmt mir die Karte aus der Hand und zieht sie durch ihr Gerät. Plötzlich wirkt Marisol sehr schüchtern. »Ich meine, wenn du Lust hast.«
»Hab ich. Absolut.«
»Echt? Versprochen?«
»Versprochen.«
Regen am Hochzeitstag bringt Glück – besagt in etwa der Aberglaube. Als hätten Soline und Rob das nötig.
Nachdem ich Marisol in Metairie abgesetzt hatte, bin ich nach Hause gefahren, habe schnell geduscht und mich auf den Weg zur St. Louis Cathedral gemacht. Da, am Spätnachmittag, war der Himmel noch makellos blau. Wir haben uns in dem kleinen Brautzimmer gedrängelt, haben uns zurechtgemacht, gelacht und immer wieder Soline umarmt, die in ihrem kurzen, bauschigen weißen Tüllkleid und der Kette aus gehämmertem Silber aussieht wie eine königliche Wolke.
Zwischendurch bin ich ein paar Mal nach draußen gelaufen, um nach Bento Ausschau zu halten – ohne Erfolg. Ich habe seine Nummer gewählt, aber er ist nicht drangegangen.
»Wer ist der Mann überhaupt?«, haben die Mädels mich andauernd gefragt.
»Niemand. Ein Mann eben.« Aber ich hatte Herzklopfen.
Um sechs soll der Gottesdienst beginnen. Gerade als alle in die Kirche gekommen sind, weil es gleich so weit ist, setzt sturzbachartiger Regen ein. Meine Mutter, wäre sie hier, würde sagen: Was könnte es Besseres geben als einen Segen von Oshun, der Yoruba-Gottheit des Wassers, der Feuchtigkeitund Anziehung, der Liebe, der Schönheit, der Harmonie und Ekstase?
Schließlich gehe ich – wie wir es geprobt haben –, eine Hand auf dem Arm eines von Robs gutaussehenden Brüdern, über den schwarz-weißen Marmorboden im
Mittelgang des Kirchenschiffs. Das Wandgemälde oben im Altarraum zeigt eine
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