Toedlicher Sumpf
Fluss gefunden wird.«
Marisol mustert mich bedauernswertes Ding kopfschüttelnd. »Und was soll ich jetzt machen? Nicht mehr pinkeln gehen?«
»Unsinn. Du kannst wachsam sein und auf Typen achten, die dir ... merkwürdig vorkommen.«
Sie kichert. »Alle Typen sind merkwürdig.«
Jetzt muss ich auch lachen. »Da hast du nicht ganz unrecht. Aber das meine ich nicht. Ich rede von richtig merkwürdig. Unheimlich merkwürdig.«
Sie verdreht die Augen. »Das hab ich im Griff.« Und schon auf dem Weg zum Wolfsgehege, ruft sie: »Können wir uns nicht einfach die Tiere ansehen?«
Ich folge ihr. Zwei große, graue Wölfe streunen auf und ab. Der eine wittert uns und hält inne, schwingt seinen schönen, pelzigen Kopf in unsere Richtung und hält meinem Blick mit seinen hellen Augen lange stand. Plötzlich weiß ich, was ich zu tun habe. Ich stelle mich zu Marisol an die Absperrung.
»Vielleicht ist das gar kein echter Wolf«, sage ich geheimnisvoll. »Vielleicht ist es ein rougarou .«
Sie dreht den Kopf und schaut mich skeptisch an. »Ein Rouga-was?«
Ich habe Tante Helenes Stimme im Ohr. Der rougarou ist kein richtiger Mann und kein richtiges Tier. Indem ich ihre alte Voodoo-Legende etwas abwandele, erzähle ich Marisol die Geschichte mitsamt ihrer Moral. Wir lehnen uns auf dieBrüstung, beobachten die Wölfe, und die Legende nimmt sie ebenso gefangen wie mich damals. Ich erzähle, dass die rougarous sich selbst nicht kennen, dass sie immerzu Gier nach Menschenfleisch verspüren, dass sie nie alt werden und sterben und, vor allem, sich bei Tag in ganz normale Menschen verwandeln. Und ich erzähle ihr, wie man den Fluch aufheben kann.
»Wir können’s ja versuchen«, sagt sie leichthin, als finde sie das alles lustig. »Wir heben den Fluch auf.« Inzwischen haben sich beide Wölfe im Gras niedergelassen und beobachten uns. Sie beugt sich weit über die Brüstung. »He, Fellgesicht!«, ruft sie. »Hallo, Fuzzy!«
»Meinst du, das sind ihre richtigen Namen? Du musst sie bei ihrem richtigen Menschennamen rufen.«
»He, Lupo! Cäsar! Fred! Brittney! Ich weiß ihre richtigen Namen nicht.« Die Wölfe starren unbeeindruckt herüber. »Aber oye . Mira . Die gucken uns genau in die Augen!«
»Ja. Das ist der zweite Schritt. Du musst ihnen in die Augen schauen.«
Sie fixiert die Tiere, als könnte sie mit ihren zusammengekniffenen dunklen Augen Laserstrahlen ausschicken. »Und dann müssen wir sie umbringen?«
Das Dritte und Letzte. »Nein. Nur ihr Blut vergießen. Zu töten brauchst du sie nicht.« Ich muss lachen. »Aber ich schätze, die Zoowärter würden selbst das nicht so gut finden. Außerdem weiß ich nicht, wie du ihr Blut vergießen willst.«
Prompt sagt sie mit glänzenden Augen: »Wenn du mir deine Waffe gibst, kann ich das.«
»Ach so, na gut.« Ich wechsele den Trageriemen meiner Tasche zur anderen Schulter. »Aber wir wissen ja beide, dass das nicht passieren wird.«
»Mann.« Sie verschränkt die Arme und tut so, als würde sie schmollen. Einer der Wölfe gähnt; seine gummiartigen schwarzen Lippen gleiten zurück und geben die Zähne frei.
»Wie auch immer. Worum es mir geht, ist, dass manche Männer auf den ersten Blick das eine sind: einfach ein netter Kerl.«Der bleiche George Anderson steht mir vor Augen. »Aber in Wahrheit sind sie etwas ganz anderes. Etwas Gefährliches. Das kann sogar bei einem Lehrer so sein oder bei einem Polizisten, einem, der eine Autorität verkörpert.« Eine böse Mischung, gottlos und gefährlich. »Oder einfach ein älterer Junge, einer, der dir cool vorkommt.« Als ich an Javante Hopkins und seine tausend Klingen denke, läuft mir ein Schauer über den Rücken. »Du musst vorsichtig sein. Die Leute sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen.«
Der Deich ist von hier nur einen Steinwurf entfernt. Ich denke an meine letzte heikle Begegnung dort, den Mann, der erst den Kopf schräg legte wie ein deutscher Schäferhund und dann plötzlich ein Messer hervorholte. Aber diese Geschichte kann ich einem Kind nicht erzählen.
Marisol schlendert weiter in dem Versuch, meinen Belehrungen zu entgehen. Ich gebe auf. Ich lasse mich auf einer Steinbank nieder und entferne die scharfkantigen Kiesel, die sich in die Gummisohlen meiner billigen Flipflops gebohrt haben. Marisol läuft umher und benimmt sich kindlicher, als ich sie je erlebt habe: balanciert auf der niedrigen Steineinfassung des Springbrunnens, geht hinüber zu der Bronzestatue einer Frau, die einen Arm und
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