Toedlicher Sumpf
Unteranderem haben es obszöner Reichtum und Umweltverschmutzung auf die Liste geschafft. Und Pädophilie ist nun eine ganz eigenständige Sünde.
Ich mache mir einen Toast mit Butter und einen Milchkaffee, setze mich mit untergeschlagenen Beinen an den Küchentisch, stippe mein Brot in den Kaffee und bringe – von Hand und aus der Erinnerung – etwas über das Interview mit Shiduri Collins zu Papier. Bevor ich transkribiere, was auf meinem Diktiergerät gespeichert ist, will ich meine Eindrücke festhalten. Eine grüne, ruhige Straße. Eine hübsche Kirche. Eine freundliche, kompetente Frau. Das Versprechen auf Heilung.
Als ich mit den handschriftlichen Notizen fertig bin, klappe ich den Laptop auf und beginne mit der Transkription. Wie im Flug vergehen zwei Stunden mit Tippen, Zurückspulen, neu Tippen und Vorwärtsspulen. Als ich das gesamte Interview im Rechner habe, ziehe ich Dr. Collins’ Schlüsselaussagen heraus, verbinde sie mit meinen Beschreibungen und baue daraus eine dicht beschriebene, durchgearbeitete Seite. Die werde ich mir heute Abend mit frischem Blick noch einmal vornehmen und zu einem Absatz eindampfen, den ich dann noch in den Artikel einbauen muss.
Langsam ziehe ich mich um; meine Gedanken kreisen um Plastikwannen voller Sand und kathartische Wirkungen. Ich mache mir einen langen Zopf, den ich anschließend zum Knoten zusammenstecke. Grauer Rock, weiße Bluse, weiße Omastrickjacke – zurückhaltender und nonnenhafter geht’s nicht.
Fette dunkle Wolken hängen tief am Himmel, es kann jeden Moment losdonnern, also nehme ich meinen Schirm und mache mich auf den Weg zu Mamá. Als ich klopfe, steht sie schon fix und fertig hinter der Tür, so dass wir gleich gehen und uns unsere wöchentliche Dosis offizieller Gnade abholen können.
Die Messe ist langweilig wie immer. Danach hake ich Mamá unter, und wir gehen zu ihr nach Hause. Normalerweise nutzt sie den gemeinsamen Fußweg als ihre persönliche Wanderkanzelund hält eine eigene kleine Predigt zu dem Thema, zu dem der Priester zuvor gesprochen hat – um unmissverständlich deutlich zu machen, wie ich das Ganze auf mein Leben beziehen kann. Heute aber geht sie schweigend neben mir her und hält meine Hand fest umklammert.
» Mi niña «, murmelt sie schließlich und klingt seltsam traurig. »Mein liebster Schatz. Du weißt, dass ich dich nie verlieren möchte, oder?«
»Ich weiß, Mamá. Mir geht’s gut. Du verlierst mich nicht.«
»Ay, sag so was nicht. Ich will das nicht.«
»Mamá! Niemand stirbt hier. Nun lass mal die Schwermut!«
» Ay, lo siento, lo siento .«
»Du musst dich nicht entschuldigen. Es ist doch alles gut!« Sie schüttelt den Kopf und quetscht meine Finger, als wären wir auf dem Weg zu einer Hinrichtung.
Als wir in ihre Wohnung kommen, wundere ich mich. Warmer, würziger Duft von Schweinebraten schlägt mir entgegen. Alles blitzt, und der Tisch ist – mit Porzellan und funkelndem Silber – für drei gedeckt.
»Mamá! Hier sieht’s toll aus.« Ich bin sprachlos. Sie hat schon so lange kein Interesse mehr daran gezeigt, es sich nett zu machen. (»Wenn du nicht da bist, mi’ja , wozu dann der Aufwand?«)
Sie lächelt schüchtern, zündet die Kerzen an und heizt den Ofen vor. »Ich muss diese engen Kirchenschuhe ausziehen«, sagt sie dann und verschwindet im Schlafzimmer.
Ich bin müde – weil ich so früh aufgewacht bin, von dem Wein bei der Hochzeit, von dem Theater mit Fabi –, deshalb suche ich in Mamás Schränken nach einem kleinen Kater-Schluck.
»Mamá!«, rufe ich irgendwann verzweifelt. »Wo ist denn dein Whiskey?«
Sie antwortet nicht, und es vergeht eine volle Minute, bis sie wieder in die Küche kommt – noch damit beschäftigt, eine andere Bluse zuzuknöpfen.
»Ich hab keinen mehr«, sagt sie.
»Was? Wieso?«
»Ay, ist dir das gar nicht aufgefallen?« Wieder lächelt sie. »Es sind jetzt schon ein Monat und drei Tage.« Stolz strahlt sie mich an. »Ich gehe zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker.«
Unglaublich. Das Eingeständnis einer lebenslang gepflegten Abhängigkeit? »Ist nicht wahr!«
Sie lächelt nur.
»Ich bin ja so stolz auf dich, Mamá!« Ich nehme sie in den Arm. Wie konnte ich das einen ganzen Monat lang übersehen? »Ich fasse es einfach nicht. Du bist toll!«
»Ay, mi’ja , es war höchste Zeit. Verstehst du? Zeit für eine Veränderung.«
»Ich bin so stolz auf dich, Mamá.« Wieder und wieder sage ich das.
Sie bindet sich eine Schürze um. »Ich muss nur
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