Toedlicher Sumpf
Gesicht. Je tiefer ich die Neuigkeit in mich aufnehme, desto gerührter werde ich.
»Aber ich bin froh, dass ich mich damals noch nicht kannte«, sagt sie. » Porque ahora lerne ich dich kennen.«
»Ach, Mamá.«
»Das Leben ist lang, mi’ja . Wir haben Zeit, Korrekturen vorzunehmen. Das schenkt uns Gott.«
Wir haben Zeit, Korrekturen vorzunehmen. Genau das tue ich den ganzen Abend lang im wahrsten Sinn des Wortes – allein mit meinem Laptop auf dem Bett. Ich füge das Interview mit Shiduri Collins so in die Geschichte ein, dass die Übergänge nicht mehr zu spüren sind, dann gehe ich das Ganze noch drei Mal durch, lese den Text laut, poliere hier und da noch etwas, drucke die Endfassung aus, finde drei Tippfehler, korrigiere sie, drucke alles noch einmal aus und hefte den Text schließlich mit einer silbernen Klammer zusammen. Nola Soledad Céspedes steht in der Autorenzeile. Seit langem sehe ich das zum ersten Mal wieder mit Stolz.
Mein Handy war den ganzen Tag leise gestellt. Jetzt werfe ich einen Blick darauf. Eine Nachricht von Calinda – »Was ist los mit dir, Süße? Ich mache mir Sorgen. Ruf mich an!« – und drei von Fabi, alle ein Gemisch aus Entschuldigung und Entrüstung.
Und es ist noch eine Nachricht eingegangen: »Nola, hier ist Bento. Ich rufe an, um dir zu danken für den schönen Abend, y también weil ich wissen möchte, ob du mal wieder mit mir ausgehst. Nur zum Essen, wir pflanzen kein Gras.« Süß. »Ich würde dich gern am Freitagabend einladen, aber wenn du da nicht kannst, geht auch ein anderer Abend.«
Ich schreibe Bento: »Vielleicht«, schreibe Calinda, dass es mir gutgeht, und hänge das Handy zum Aufladen ans Netz. Fabi kann mich mal.
Es ist erst zehn Uhr abends, was mir absurd und sinnlos früh vorkommt. Ich stelle den Wecker auf 6.00 Uhr, damit ich morgen früh Zeit habe, in die Picayune -Redaktion zu fahren und Bailey die Geschichte noch vor der Deadline persönlich zu übergeben. Dann trinke ich einen großen Becher warme Milch und lege mich ins Bett.
Aber ich kann nicht schlafen. Ich liege im Dunkeln und denkean die Stieftochter von Patrick Kennedy. Seit der Oberste Gerichtshof entschieden hat, dass sein Verfahren wiederaufgenommen werden soll, taucht ihre Geschichte in sämtlichen Medien auf. Inzwischen ist sie am College. Sie will Anwältin werden. 1998 war sie acht Jahre alt. Und lag drüben in Harvey, am anderen Flussufer, in ihrem Bett und schlief. Ein kleines Mädchen, das im Bett lag und schlief – die Mutter war um 5.00 Uhr zur Arbeit gefahren –, als der Stiefvater hereinkam. Er hielt ihr die Augen zu und vergewaltigte sie.
Als es ihm nicht gelang, die Blutung zu stillen, wählte er 911, und als die Polizisten kamen, log er ihnen etwas vor. Er hatte die blutgetränkte Matratze umgedreht, damit sie sie nicht sahen, und erfand eine Geschichte, in der er irgendwelche schwarzen jungen Männer beschuldigte.
Kennedy wurde vom Staat Louisiana zum Tode verurteilt und sitzt bis zum heutigen Tag im Todestrakt des Staatsgefängnisses.
Die Frage der Rasse ist nicht unerheblich. Lange war es in vielen Staaten legal, einen Mann wegen Vergewaltigung zum Tode zu verurteilen, aber dieser Praxis setzte der Oberste Gerichtshof 1976 ein Ende, denn neunzig Prozent aller in den Vereinigten Staaten wegen Vergewaltigung hingerichteten Männer waren Afroamerikaner gewesen. In Louisiana waren in den fünfundsiebzig Jahren davor vierzehn Vergewaltiger hingerichtet worden; alle waren schwarz. Amerika liebte diese Art Lynchjustiz, und das Vergewaltigungsgesetz machte es verdammt leicht, schwarze Männer in den Todestrakt zu bringen. Deshalb hat der Oberste Gerichtshof die Praxis verändert.
Doch neunzehn Jahre später hat der Staat Louisiana wiederum eine Wende vollzogen – in Bezug auf die Vergewaltigung von Kindern, die als besonders bösartiges Verbrechen eingestuft wird.
Pädophilie: eine Todsünde. Da, wo ich lebe, ist man der Auffassung, dass Männer, die Kinder vergewaltigen, den Tod verdienen.
Patrick Kennedy ist schwarz. Egal, ob er schuldig ist oder nicht – ihn hinzurichten wäre ein weiterer Akt in einer langen, falschen Abfolge rassistischer Ungerechtigkeiten.
Es gibt keine einfachen Antworten.
»Es raubt ihnen die Unschuld, es raubt ihnen die Kindheit, es macht sie seelisch krank«, hat der Bezirksstaatsanwalt von New Orleans in einem Kommentar zum Fall von Kennedys Stieftochter gesagt. »Es tötet ihre Seele. Sie sind danach für immer verändert.«
Seelen
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