Toedlicher Sumpf
Kopf. Nach und nach nehmen die Umrisse und Farben meines Zimmers ihre ursprüngliche Gestalt wieder an, und der dichte Nebel in meinem Kopf beginnt sich zu lichten. »Danke, Uri. Mir geht’s gut. Wirklich.« Ich entschuldige mich noch einmal.
Er lässt seinen Blick durch den Raum schweifen, und offenbar sieht er zum ersten Mal die Schießscheiben, die ich an sämtliche Wände gepinnt habe, eine Reihe dunkler Wachen, die im Luftzug des Ventilators leise flattern.
»Wow. Ist das nicht ein bisschen morbide?«
Zweifelnd schaut er noch einmal die Einschusslöcher an, dann steht er auf und geht zur Tür. »Alles in Ordnung bei dir?«
»Ja, alles gut. Hundertprozentig.« Kopfschüttelnd verlässt er mein Zimmer.
Es ist Sonntagmorgen. Ich schaue nach: 5.00 Uhr. Es lohnt nicht, sich noch einmal hinzulegen und auf Schlaf zu hoffen. Seltsam benommen sehe ich mich um, habe aber keine Ahnung, was ich tun soll. Morgen früh muss ich den Text abgeben, aber zum Arbeiten bin ich viel zu groggy. Schließlich schlüpfe ich in meinen Bademantel und tapse zum anderen Ende der Wohnung.
»Stört es dich, wenn ich mir ein Bad einlasse?« Es ist hellhörig bei uns.
»Nur zu«, ruft er. Sein Licht ist schon wieder aus.
Ich stecke meine Locken hoch und stelle das warme Wasser an. Als die Wanne voll ist, lasse ich mich Stück für Stück ins dampfende Nass gleiten, schließe die Augen und registriere dankbar die beruhigende Wirkung.
Als nach Katrina immer mehr Leute zurückkamen und in unserem Haus die Gasleitung intakt war, haben die Besitzer des »Fair Grinds« jedem, der das wollte, erlaubt, warm zu duschen. Ständig war der Laden voll mit verstörten, dankbaren Fremden, die allerdings nicht lange Fremde blieben. Als wir wieder Strom hatten, gaben Juliet und Richard allen Kaffee und Eis aus. Jeder hatte eine Geschichte zu erzählen – von Dingen, die das Wasser ihm genommen hatte; von einem störrischen Verwandten, der sich der Evakuierung verweigert hatte und nun in Tucson festhing; von einer Tante, die auf ihrem Dachboden gestorben war; einem Großvater, der im Superdome gestorben war, weil er dort nicht an seine Medikamente herankam; von einem Haustier, das zu betrauern war; oder – wenigstens – von einem gruseligen Kühlschrank. Ihren Pappkaffeebecher in der Hand, saßen oder standen sie und redeten und redeten und redeten. Es schien, als könnten sie gar nicht genug kriegen vom Reden. Da jeder eine Geschichte zu erzählen hatte, war nichts dabei zu reden; niemand schämte sich. Du konntest in der Öffentlichkeit weinen – ständig sahman irgendwo jemanden weinen. Fremde hielten einander die Hand oder nahmen einander fest in den Arm. Monatelang ging es in der ganzen Stadt zu wie bei einer endlosen, großen Gruppentherapiesitzung, bei der die Leute einander erzählten, was sie verloren hatten, wonach sie sich sehnten, welche Szene sie bis zur Sprachlosigkeit entsetzt hatte. Wie Chris Rose nach dem Sturm in der Picayune schrieb: »Hier sind momentan alle psychisch krank.«
Während die Stadt sich wieder belebte, veränderte sich auch etwas, und das war Leuten wie Juliet und Richard zu verdanken, die einfach ihre Tür aufmachten und jedem eine warme Dusche und heißen Kaffee anboten – kleine Dinge, die helfen konnten, Seelen zu retten.
Ich bleibe in der Wanne, bis meine Muskeln entspannt und weich sind wie Gummi. Als ich aussteige, beginnen die Vögel zu zwitschern. Graues Morgenlicht hängt in den Fenstern. Es ist noch früh. Ich habe keine Lust, mich jetzt schon für die Kirche anzuziehen, deshalb schlüpfe ich in eine Trainingshose und ein Tanktop und stelle, so leise wie möglich, die Nachrichten an.
Der Papst ist da. Nicht in New Orleans, aber er stattet den Vereinigten Staaten einen Besuch ab. Bevor er mit der Shepherd One wieder nach Hause fliegt, wird er heute im Yankees-Stadion eine Messe abhalten. Für Aufsehen hat er bereits gesorgt, indem er sich für sexuellen Missbrauch durch katholische Priester entschuldigt hat.
Es hat mich nie geschockt, dass es unter Priestern Pädophile gibt. Statte einen beliebigen Haufen Leute – Priester, Wall-Street-Manager, hohe Regierungsbeamte – mit zu viel Macht aus, und unweigerlich wird jemand, der machtlos ist, missbraucht werden.
Was mich allerdings überrascht, ist die Tatsache, dass Papst Benedikt kürzlich sieben neue Todsünden auf die seit sechshundert Jahren unveränderte Liste gesetzt hat. Vielleicht war er der Ansicht, dass mal wieder ein Update fällig ist.
Weitere Kostenlose Bücher