Toedlicher Sumpf
Profis in Schutzanzügen wegtragen. Du musst es würdigen, hegen und pflegen, sorgfältigbewahren. Es bedeutet nicht Verfall und Chaos, es entspricht dem Stil von New Orleans.
Und wenn du ein kleines kreolisches Drei-Zimmer-Cottage an der Esplanade Avenue besitzen möchtest, musst du 450 000 Dollar hinlegen, obwohl der Markt übersättigt ist und an jeder Ecke Zu-verkaufen-Schilder herumstehen.
An der Haltestelle Canal Street steige ich aus und gehe die Royal Street entlang, vorbei an großen Häuserblocks. Den Mississippi höre ich nicht, aber hin und wieder gleitet eine Möwe über den Himmel. An sämtlichen schmiedeeisernen Laternenpfählen kleben Zettel mit dem Foto von Amber Waybridge, der vermissten Touristin. Ich bleibe stehen und sehe mir einen der Flyer genauer an: dunkles Haar, dunkle Augen. Ein breites, ansprechendes Lächeln. Ein bisschen sieht sie aus wie ich. Langsam zupfe ich den Klebestreifen ab, falte Amber Waybridge doppelt und schiebe sie im Weitergehen in meine Handtasche.
Zu der Adresse, die Blake Lanusse mir genannt hat, gehört ein zweigeschossiges altes Haus mit dicken, dunkelrot verputzten Mauern und lackschwarzen Fensterläden. Ein Messingschild gibt Auskunft darüber, dass es früher einem Plantagenbesitzer gehört hat, der mit seiner Familie hier gewohnt hat, wenn sie in der Stadt waren, um in die Oper zu gehen – oder Sklaven zu kaufen und zu verkaufen , füge ich im Geiste hinzu, und ich bin in Versuchung, meinen Filzstift zu zücken. Jetzt ist das Haus in vier Wohnungen unterteilt. Die von Lanusse ist Nummer C im Obergeschoss.
Gegenüber, auf der anderen Seite der Chartres Street, befindet sich St. Ursuline, eine Mädchenschule innerhalb des Ursulinerinnenklosters mit seinem großen Außengelände. Sie hat mich sehr beeindruckt, als wir uns an der P. S. McDonogh 15 mit der Geschichte der Stadt beschäftigten. An einem Samstag, als nur die Nonnen da waren, haben wir das Anwesen sogar besichtigt.
In dieser Gegend sind die Straßen sauber, die Fußwege immer gefegt. Die Blumenkästen an den Fenstern sind üppig bepflanzt. Es ist ein gepflegtes Wohnviertel, durch das auch viele Touristen schlendern.
Absolut sicher. Kein Grund zur Beunruhigung.
Ich schaue auf mein Handy. Keine Nachrichten. Das Sonnenlicht nimmt ab, an den nackten Armen empfinde ich die Luft schon als kühl.
Ich gehe auf die andere Straßenseite, um von dort einen Blick auf Lanusses Fenster zu werfen; er kann direkt auf das Kloster schauen. Die Fenster sind mit dickem rotem Stoff verhängt; keine Chance, ins Innere zu sehen.
Plötzlich bewegt sich einer der Vorhänge. Eine vage Gestalt taucht auf, ein Gesicht, das im Schatten liegt, über einem kaum auszumachenden Körper. Ich erstarre. Mein Herz hämmert. So wie ich hier stehe und zu seinen Fenstern hinaufschaue, weit und breit niemand sonst, muss ich überdeutlich zu sehen sein. Die reinste Zielscheibe. Scheinbar beiläufig wende ich mich ab und lasse meinen Blick schweifen, so als sei ich nur einer unter vielen Touristen, die das Quarter durchstreifen, doch mit jeder Sekunde, die verstreicht, komme ich mir auffälliger vor. Wie Alice im Wunderland, die plötzlich riesengroß wird.
Endlich setze ich mich in Bewegung, gehe im gemütlichen Spazierschritt weiter, strenge mich an, locker zu wirken, entspannt, so als hätte ich mich nur mal kurz hier umsehen wollen, aber mein Atem geht flach, und auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle spüre ich den Blick von Blake Lanusse im Rücken wie einen Hitzstrahl.
3
Am Donnerstag stehe ich um sechs auf. Aus reiner Höflichkeit spreche ich vor meinem kleinen altár ein paar Ave Maria und erbitte den Segen meiner Vorfahren, wer zum Teufel sie auch gewesen sein mögen. Pflichtschuldig spreche ich mein »Sei gegrüßt, o Königin! Mutter der Barmherzigkeit ...«, aber ist es mir ernst damit? Zu Maria zu beten kommt mir aussichtslos vor. Sie ist passiv, mild, ergeben, wie Leda oder Europa – wie soll sie mich beschützen? Ich bete, ja, aber – verdad – ich leiere den Text nur herunter.
Nachdem ich durch die Straßen von Mid-City gelaufen bin, dusche ich, ziehe mich an, raffe meinen Laptop und alle Unterlagen zusammen, rufe Uri ein »Tschüs« zu und gehe die grün gestrichene hölzerne Außentreppe hinunter zum »Fair Grinds«. Der Name des Coffeeshops ist eine Anspielung auf die berühmten Fair Grounds, die große Rennbahn ganz in der Nähe. Ich muss alles, was ich gestern an Fakten und Informationen zusammengetragen habe,
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