Toedlicher Sumpf
reiche Eltern. Etwas Besseres als die Wohnungen hier in den oberen Geschossen, mit ihren üppig begrünten schmiedeeisernen Balkonbrüstungen und dem Blick über den Jackson Square, hat der Immobilienmarkt von New Orleans nicht zu bieten.
Lanusse bleibt stehen, sammelt sich kurz und geht schließlich weiter. Ich folge ihm die Chartres Street hinunter. An der übernächsten Ecke erhebt sich rechter Hand die edle graugrüne Fassade des »Omni Royal Orleans Hotel«, wo Soline ihre Hochzeit feiern wird. Ist er den beiden Mädchen überhaupt gefolgt, oder hat er nur zufällig gerade seinen Nachmittagsspaziergang gemacht? Gut möglich, dass meine überhitzte Fantasie mit mir durchgeht. Jetzt wendet Lanusse sich nach links und entkommt der grellen Sonne, indem er ins »Napoleon House« geht – womit er mir schlagartig eine meiner Lieblingskneipen vermiest.
Das alte Schindeldach des »Napoleon House« könnte aus dem Glöckner-von-Notre-Dame- Film stammen. In den Boden ist als kleines Mosaik der Name eingelassen, den das Haus 1821 erhielt, als der damalige Bürgermeister von New Orleans Napoleon, der sich im Exil befand, darin Zuflucht anbot.Napoleon kam nicht, doch der Name ist geblieben, und seither suchen an der Bar immer Leute Zuflucht.
Mich lockt sie jetzt auch, und nachdem ich gesehen habe, wie Lanusse zwei Zehnjährigen nachgestiegen ist, könnte ich einen kalten Highball mehr als vertragen, aber bei der Vorstellung, dass ich ein Glas an die Lippen führe, während er in der Nähe ist, wird mir speiübel.
Im Quarter ist es gestattet, auf offener Straße zu trinken, also kann ich ganz ohne Heimlichtuerei einen Flachmann aus der Handtasche ziehen. Ich laufe die Chartres Street zurück zu meinem Auto; mein Puls rast. Hier beginnt der Freitagabend früh. Überall sind Touristen, aufgestylt und feierlustig, begierig auf alles, was das Quarter an Ausschweifungen zu bieten hat. New Orleans ist eine Stadt der glitzernden Masken, der Rollenspiele und Kostümierungen. Des raffinierten Verschleierns. Die Täuschung ist fester Bestandteil unserer Verführungskunst.
Während des 1812er-Krieges, als britische Truppen in die Schlacht von New Orleans marschierten, waren die feinen Damen der Stadt – abgesehen von den Huren – die Einzigen in den Vereinigten Staaten, die Make-up benutzten; längst waren sie über die Landesgrenzen hinaus für ihre Eleganz bekannt.
Wir machen uns zurecht, um zu verführen, um die Wahrheit zu überspielen. Wir erfinden uns im Laufe des Geschehens. Selbst im Angesicht des Todes tanzen wir auf der Straße.
Alle paar Meter komme ich an einem Laternenpfahl vorbei. Zwischen grellen Werbeanschlägen für Band-Auftritte und Wrestling-Veranstaltungen flattern wie Gebetsfahnen die weißen Flyer, auf denen über die verschollene Frau informiert wird. Viel zu klein und ganz bestimmt zu spät. Jedes Mal, wenn ich an einem der weißen Zettel vorbeigehe, verfolgt mich der Blick der schönen dunklen Augen.
Unsere Stadt steht auf sumpfigem Boden, wir haben den Grundwasserspiegel direkt unter den Sohlen. Als die britischen Truppen damals die Schlacht verloren hatten, wolltensie ihre Toten begraben, doch die Leichen tauchten – nass und halb verwest – immer wieder aus dem Schlamm auf. Ein Albtraum von Zombies.
Wir legen Make-up auf und schnitzen Engel aus Stein. Wir trinken Absinth und knoten die Bänder unserer Maske fest zu. Wir richten schön her, was wir nur können. Nichts von dem, was hier in New Orleans begraben ist, bleibt lange unten.
Ich gehe weiter und trinke Bourbon und rekapituliere den Tag. Den Einblick ins Orleans-Parish-Gefängnis. Das Veltri-Interview. Den Besuch in dem Restaurant, aus dem Amber Waybridge verschwunden ist. Drei scharfe Aufnahmen von einem Mann, der vermutlich Lanusse ist, und ein Gefühl dafür, wie er es macht: anschauen, hinterhergehen und dann den Reiz ertränken.
Bisher jedenfalls. Bisher hat er ihn ertränkt.
Zurück in der Redaktion verschriftliche ich die Interviews und verabrede mit einem Fotografen, dass er Bilder von Mike Veltri macht.
Und dann ist es endlich Freitagabend in New Orleans, und ich bin Single und fühle mich wohl. Ich habe nichts weiter vor, also fahre ich in den Club »Tipitina’s« und tanze und flirte und kippe Mai Tais, bis ich nicht mehr geradeaus gucken kann. Amen.
6
Am Samstagmorgen erwache ich von Geheul. Es ist noch dunkel. Schlaftrunken taste ich nach dem Wecker mit den neongrünen Ziffern. Das Heulen hallt in mir nach. Es ist, als
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