Toedlicher Sumpf
die jungen Mädchen, auf dem Pianoforte italienische Barockstücke zu spielen und mit hauchfeinen silbernen Nadeln zu sticken.
Zweieinhalb Jahrhunderte später scheint das Kloster unverändert – immer noch von hohen Mauern umgeben, immer noch weitläufig, der Garten immer noch im französischen Stil streng geometrisch angelegt. Heute werden hier die Töchter der wohlhabenden Familien von New Orleans unterrichtet, vom fünften bis zum achtzehnten Lebensjahr. Allmorgendlich finden die privilegierten Mädchen sich im Schulgebäude ein, und am Nachmittag kommen sie wieder heraus – adrett in Faltenrock, mit Monogramm versehener Bluse, Kniestrümpfen und Mütze.
Um drei sitze ich schräg gegenüber von Blake Lanusses Haus und hoffe, dass ich wie eine Touristin aussehe. Meine Augen sind hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen.
Eine Glocke ertönt, die Tür der Klosterschule öffnet sich, und eine Schar Mädchen aller Altersgruppen drängt heraus. Sie gehen die Chartres Street in beide Richtungen davon, manche öffnen ihr Haar, andere zücken das Handy, viele steigen in die BMWs und Jaguars ein, die am Straßenrand warten, und sie reden, reden, reden. Im oberen Stockwerk des Gebäudes gegenüber teilen sich die Vorhänge, und vage ist ein Gesicht auszumachen. Auf einer Seite erkenne ich eine Hand, die den roten Vorhangschal umklammert. Minutenlang sehe ich die Gestalt dort reglos stehen. Der Strom von Mädchen, die aus der Schultür kommen, versiegt allmählich.
Schließlich gehen nur noch zwei Nachzüglerinnen die Chartres Street in südwestliche Richtung hinunter; sie zupfen an den Reißverschlüssen ihrer Schulrucksäcke und schnatternunbekümmert. In ihren Uniformen sehen sie beinahe gleich aus; sie sind vielleicht zehn.
Das Gesicht verschwindet, die Vorhänge schließen sich. Ich strecke die Beine aus und sehe zu, wie es still wird rund um das Schulgebäude.
Doch dann geht die Tür von Lanusses Haus auf. Ein Mann kommt heraus, zieht die Tür behutsam hinter sich zu und geht in südwestliche Richtung davon.
Ich bin sofort hellwach, spüre etwas wie Panik in mir hochsteigen. Hastig hole ich die Digitalkamera aus der Tasche, zoome das Gesicht heran und habe es deutlich vor mir: helle Augen, kantige Züge, im Grunde gut aussehend, aber gezeichnet von zu viel Alkohol. Wenn das Lanusse ist, dann ist er im Gefängnis sichtlich gealtert. Sein dunkles Haar ist dünner als auf dem Foto in der Akte.
So deutlich, so dicht vor mir will ich ihn eigentlich nicht sehen – von der plötzlichen Nähe seines Gesichts dreht sich mir der Magen um –, aber ich mache schnell drei Bilder, die ich später mit dem in der Akte vergleichen kann. Dann verstaue ich die Kamera und lasse ihm etwas Vorsprung. In der Kakihose und dem weiten T-Shirt ist er eine absolut unauffällige Erscheinung.
Verrückt, wie selten Leute sich umdrehen. Jemandem zu folgen ist viel einfacher, als man meinen könnte. Die ganze Chartres Street hinunter geht Blake Lanusse ein paar Meter vor mir her, ohne mich zu bemerken, während die beiden Mädchen ein paar Meter vor ihm hergehen, ohne ihn zu bemerken. Sie lachen, stoßen einander an, zeigen einander Sachen auf ihren Handy-Displays. Wir kommen am Hotel »Provincial« und am Hotel »Chateau« vorbei; wir überqueren die St. Philip, die Dumaine und die St. Ann Street. Er ist groß, breitschultrig und muskulös. Auch wenn er inzwischen ein paar Kilo schwerer ist, weiß er sich zu bewegen. Sein Gang ist locker, selbstbewusst. Wie er so vor mir hergeht, ertappe ich mich bei der Frage, ob er – Ende vierzig, Ex-Häftling – stark genug wäre,eine Frau gegen ihren Willen durch einen Korridor und in den Kofferraum eines bereitstehenden Wagens zu bugsieren.
Eins steht jedenfalls fest. In den Spätnachrichten ist Amber Waybridge als unerschrockene, lebhafte junge Frau beschrieben worden. Bestimmt hätte sie sich nicht im Dunkeln zusammengekauert und auf Rettung gehofft. Sie hätte sich gewehrt.
Inzwischen haben wir die Fußgängerzone der Chartres Street erreicht, den Bereich zwischen der St. Louis Cathedral und den Grünanlagen am Jackson Square. Es wimmelt vor Touristen, und ich habe Mühe, die Mädchen nicht aus den Augen zu verlieren. Blake Lanusse hat aufgeholt, er ist jetzt dichter hinter ihnen. Gerade als ich mich frage, was für Eltern ihre zehnjährigen Töchter allein durchs Quarter stromern lassen, biegen die beiden in den alten Pontalba-Apartment-Komplex ab, und meine Frage ist beantwortet: sehr
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