Toedlicher Sumpf
dass der rougarou sich selbst nicht kennt.«
»Was?«
»Er hat sich verloren. Versteht sich selbst nicht mehr, fühlt sein Herz nicht. Er ist immer allein, Tag und Nacht.«
So in ihre Arme geschmiegt, auf ihrem Schoß so sicher wie im Herzen meiner Mutter, empfand ich tiefes Mitleid für die einsame Kreatur , mochte sie auch noch so gottlos und gefährlich sein.
»Und kann man den Zauber brechen?«, fragte ich.
»Es ist kein Zauber, Mädchen«, knurrte sie. »Ich erzähl kein Märchen, ich rede von einem Fluch. Einem uralten Fluch.«
»Aber kann der Fluch aufgehoben werden?«
»Oh ja, meine Kleine, das kann er. Dafür braucht es einen mächtigen Mann. Einen tapferen und starken Mann.«
»Und was macht der?«
»Hm, lass mich überlegen. Drei Dinge musst du tun, wenn du den Fluch von einem rougarou nehmen willst. Du musst ihn bei seinem Menschennamen nennen. Das ist das Erste. Ihn beim Namen nennen. Dann musst du ihm in die Augen schauen – wenn es Nacht ist, in die gelben Werwolfaugen, wenn es Tag ist, in seine Menschenaugen. Das ist das Zweite. Und dann musst du sein Blut vergießen. Das ist das Dritte und Letzte.«
Das Dritte und Letzte. »Und dann ist der Fluch aufgehoben?«
»Ja, Kleine. Wenn er dabei stirbt, dann sollte es so sein. Überlebt er, ist der Fluch von ihm genommen. Dann ist er wieder ein ganz normaler Mann. Wenn es einen gibt, der so mutig ist, gegen den rougarou zu kämpfen, und wenn er dann auch gewinnt, wird der Fluch aufgehoben.«
So eingekuschelt auf ihrem Schoß, gewiegt in den Bahnen, die der Stuhl bereits in den dünnen Teppich gegraben hatte, malte ich mir gern aus, dass ich groß und stark war, wie ein Comic-Superheld, dass ich dem Werwolf seinen Namen entgegenschrie – und trotzdem war mir unheimlich. Ich sah den schwarzen Sumpf vor mir, den Schimmer des Mondlichts auf dem Wasser, das Funkeln der gelben Augen. Sein Blut vergießen . Mit einem Messer? Einer Pistole? Was, wenn ich ihn verfehlte? Ich stellte mir vor, wie die Hände, die keine menschlichen waren, mich bei den Schultern packten, wie der zottige Kopf sich über meine Kehle beugte. Dann presste ich voller Entsetzen mein Gesicht an Tante Helenes warme Brust.
Sie tätschelte mir beruhigend den Rücken. »Sei einfach ein braves Mädchen. Geh zur Schule, geh in die Kirche. Hör auf deine Mama, dann tut dir kein rougarou jemals was an. Hörst du?«
»Ja.«
»Die Leute, die Ärger haben, sind meistens selbst schuld. Geh in die Kirche. Geh zur Beichte. Bleib bei deiner Mama. Halt die Fastenzeit ein.«
»Fastenzeit?«
»Manche sagen, wenn du sieben Jahre hintereinander die Fastenzeit nicht eingehalten hast, verwandelst du dich ganz von allein in einen rougarou . Und bleibst einer.«
Meine Mutter nahm das mit dem Fasten immer sehr genau, sie kümmerte sich um alles; ich selbst bekam kaum etwas davon mit. Sie sorgte dafür, dass ich auf etwas verzichtete, das ich zwar mochte, aber durchaus auch weglassen konnte – Bananen zum Beispiel oder Oreo-Kekse, keinesfalls etwas Umfassenderes wie Fernsehen oder Süßigkeiten generell –, damit ich sie, wie sie sagte, nicht einen ganzen Monat lang täglich zum Wahnsinn trieb.
»Halte dich an die Fastenzeit, hör auf deine Mama, sei ein braves Mädchen. Treib dich nicht herum, dann passiert dir auch nichts. Dann lässt der rougarou dich in Ruhe.«
Ich habe diese Geschichte geliebt – weil sie so gruselig war, vor allem aber, weil sie mir ein Gefühl von Sicherheit vermittelte. Wenn man sich nur an einfache, altbekannte Regeln hielt, konnte einem nichts passieren. Während der Kindheit waren alle Gefahren – alle bösen Kreaturen und ihre Untaten – so wunderbar weit weg. Mit dem richtigen Gegenzauber ließ der Fluch sich durchbrechen, und der Dreischritt gefiel mir besonders. Meine Freude an den genau vorgegebenen Regeln mischte sich wunderbar mit der an Tante Helenes Singsang, den aufregenden Pausen, die sie einlegte, den blutigen Einzelheiten und ihrem warmen Körper, der uns beide wiegte.
Und dann war die Geschichte zu Ende. Tante Helene klatschte in die Hände, schob mich sanft von ihrem Schoß, und wir machten uns ans Wäschefalten, tranken von der Zitronenlimonade aus ihrem Plastikkrug und zerkauten krachend ein paar von ihren kleinen, runden Zitronenkeksen, die mit einer dünnen Schicht Staubzucker bestreut waren. Wie geordnetund befriedigend das alles war: das wohlige Gruseln, das die Geschichte auslöste, das klare Ende, die Berechenbarkeit. Das Dritte und Letzte .
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