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Toedlicher Sumpf

Toedlicher Sumpf

Titel: Toedlicher Sumpf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Castro
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hätte ich es im Schlaf schon lange gehört: unheimliche, langgezogene Klagelaute ganz in der Nähe. Vier Uhr dreiundfünfzig. Ich seufze.
    Neuerdings schnüren nachts wilde Hunde in Rudeln von drei oder vier durch die Stadt, wenn auch nicht unbedingt hier in Mid-City. Seit Katrina so gut wie alles Getier aus der Stadt fortgespült hat – sogar Vögel –, gibt es für sie nicht mehr viel zu fangen. Sie hoffen auf unverschlossene Mülltonnen, überquellende Papierkörbe und die eine oder andere streunende Katze, die dumm genug war, sich nicht zu verstecken.
    Jetzt ist es still. Dunkel. Plötzlich kommt mein Zimmer mir klein vor, gespenstisch, es fühlt sich so an, als wäre ich nicht allein. Mit einer Hand greife ich mein Handy, mit der anderen ziehe ich leise die Nachttischschublade auf und ertaste ein beruhigendes Stück Beretta. Minutenlang bleibe ich so liegen. Die Waffe entsichert, einen Finger am Abzug, die Augen weit auf, sehe ich zu, wie die grünen Ziffern am Wecker umspringen. Pochender Kopfschmerz, leise Übelkeit. Aber nichts geschieht.
    Irgendwann setze ich mich auf und mache Licht. Ich leide wohl an Verfolgungswahn. Unter aberwitzigen Ängsten.
    Um mich zu beruhigen, erinnere ich mich an das, was mich in der Kindheit getröstet hat. Als ich noch klein war, hat meine Mutter mich manchmal, wenn sie arbeiten musste, bei unserer Nachbarin gelassen, bei Tante Helene. Helene Robinson war schon älter, sehr dünn und mit ihren krummen Schultern nichtviel größer als ich. Aber ihre Wangen waren weich, wie kleine Kissen zwischen den Fältchen. Bei ihr war es immer sauber und duftete nach frischem Kuchen. Sie nahm mich auf den Schoß, ich lehnte den Kopf an ihre Schulter, wir wiegten uns sanft in ihrem Schaukelstuhl, und sie strich mir übers Haar, während sie von den – wie sie es nannte – alten Zeiten erzählte, den Bayou-Zeiten. Ihr Ton war wohltuend und süß wie Zuckerrohrsirup. Hypnotisiert von dem Singsang, ließ ich mich in ihre Arme sinken und lauschte.
    Ihre Lieblingsgeschichte war die vom rougarou , und sie begann sie immer gleich.
    »Diese Geschichte, mein Kind, ist nicht so weit hergeholt, hörst du? Sie ist sehr, sehr alt. Älter als ich und älter als du, als meine Mama und ihre dazu. Das ist die Geschichte vom rougarou .«
    Stumm formte ich das Wort mit den Lippen nach: rougarou .
    »Also, der rougarou ist kein richtiger Mann und kein richtiges Tier, sondern eine böse Mischung, gottlos und gefährlich.«
    Die Worte »gottlos und gefährlich« sprach sie mit veränderter Stimme, düster, drohend, ganz anders, als sie sonst klang, und ich erschauerte, als hätte sie mir eisige Luft in den Nacken gehaucht.
    »Der rougarou ist verflucht, weißt du; er ist ein Werwolf. Er isst« – an der Stelle machte sie eine Pause – »Menschenfleisch. Er trinkt das Blut von Menschen.«
    Das entsetzte und faszinierte mich. »Wie sieht der rougarou aus?«, flüsterte ich.
    »Oh, tagsüber ganz normal. Wie jeder andere. Sie laufen herum wie du und ich. Vielleicht sehen sie ein bisschen kränklich aus. Sie wissen, dass sie verflucht sind, aber sie sagen’s niemandem. Nein, sie benehmen sich ganz normal, fallen keinem auf. Aber wenn du in der Nacht runtergehst in die Sümpfe, kannst du sie sehen. Sie haben den Körper von einem Mann und den Kopf von einem Wolf. Große Zähne. Gelbe Augen,die geradewegs durch dich durch gucken. Sie fressen dich, so wie du bist.«
    »Sie machen einen tot?«
    »Manchmal schon. Dann nagen sie jeden Knochen von dir ab. Manchmal saugen sie auch nur dein Blut. Lassen dich leben. Dann bist du auch verflucht. Wirst ein rougarou .«
    »Muss ich dann auch Leute essen?«
    »Ja, Kind. Dann hast du immerzu furchtbaren Hunger. Wie eine Krankheit. Alles, was du berührst, geht zugrunde. Und das bleibt ewig so. Du wirst nicht alt, du stirbst nicht. Nichts kann dir was anhaben. Menschenblut macht dich stark, hält dich jung.«
    »Wie bei den Vampiren?«
    »Wie bei den Vampiren, ja, Kind.« Plötzlich schob sie mich ein Stück von sich weg, sah mich stirnrunzelnd an und hörte auf, uns zu wiegen. »Moment. Wo hast du denn was von Vampiren gehört?«
    »Fernsehen.«
    »Hm. Na ja.« Der Schaukelstuhl setzte sich wieder in Bewegung. »Werwölfe bleiben ewig jung, das schon, aber da gibt’s weder Silberpflock noch Kruzifix noch sonst etwas. Keine Särge und solche Sachen. Der rougarou ist bei Tag ganz normal.« Sie seufzte. »Aber es ist nicht schön für ihn. Zu dem Fluch gehört nämlich auch,

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