Toedlicher Sumpf
musste?«
Er sieht mich eine Weile schweigend an, dann lässt er endlich los.
»Ach, das war doch nur Spaß«, sagt er, schiebt sich aber dennoch zwischen mich und die Haustür. Das scharfe Ding blitzt immer noch in seiner Hand. »Ich hab nur ein bisschen gespielt.«
»Das weiß ich. Ist kein Problem.«
»Also lassen Sie es aus der Geschichte raus?«
»Wenn ich jetzt gehen kann, ja.«
»Schreiben Sie auch, dass ich ein König gewesen wäre?«
»Wenn es für die Geschichte wichtig ist, ja.«
»Schreiben Sie, dass ich Sadie nicht umbringen wollte?«
»Wenn es wichtig ist, ja.«
»Okay. Dann kommen Sie.« Er lässt mich vorbei, begleitet mich zur Tür, öffnet sie schwungvoll und hält sie für mich auf. Ich trete hinaus auf die Vortreppe und atme mit offenem Munddie frische Luft, nehme sie gierig auf, als wäre es klares Wasser. Hier auf dem heißen Zementboden, im Schatten der großen Bananenbäume, bin ich sicher.
»Hey, Nola?«
»Mr. Hopkins?«
Er beugt sich vor. Sein grinsendes Gesicht kommt meinem sehr nahe; der Zigarettengestank ist unglaublich.
»Hab ich schön gesagt, was Sie hören wollten?«
Ich sehe es in seinen Augen blitzen, dann fliegt die Tür zu.
Den Spätnachmittag bringe ich in der Redaktion damit zu, das Hopkins-Interview abzutippen. Die ganze Zeit hoffe ich, dass Claire noch auftaucht und ich mich wegen des Plantagen-Textes mit ihr anlegen kann, aber sie kommt nicht. Wahrscheinlich ist sie bei einem Yoga-Kurs oder einem Menopause-Selbsterfahrungsseminar oder so was.
Beim Schreiben meiner Storys für die Times-Picayune stütze ich mich auf das klassische Journalistenrüstzeug: wer, was, wann, wo, wie. Wenn’s gut geht, liefere ich auch: warum – oder zumindest einen Vorstoß in diese Richtung. Auch bei harmlosen Porträts oder Lobeshymnen auf irgendwas halte ich die Story schlank und übersichtlich, schreibe den Leitgedanken in den ersten Satz und verzichte auf Füllsel und Ausschmückungen. Was zählt, sind die Fakten.
Doch dieses Thema ist dafür zu groß, zu komplex. Selbst jetzt, beim Schreiben, spüre ich, dass mir der Zugriff auf den großen Zusammenhang noch fehlt.
Manchmal frage ich mich, wie unsere Geschichten aussehen würden, wenn sie die Gestalt des Mississippi widerspiegeln sollten. In der Stadt, wo er breit und strudelnd dahinfließt, schokoladenbraun, manchmal auch stahlgrau, ist es einfach, den Fluss als ein Ganzes zu erfassen: als etwas Offensichtliches, klar Umrissenes, Eindeutiges – so wie auch ein Verbrechen eindeutig ist. Aber südlich von New Orleans fächert er sich auf wie der Fußabdruck einer Ente, verzweigt sich zu einemLabyrinth winziger Flüsschen. Von der Stelle an, wo er sich teilt, lässt er sich im Einzelnen nur noch schwer verfolgen. Es ist beinahe unmöglich, die kleinen Seitenarme des Flusses von küstennahen Bayous zu unterscheiden. Der französische Forschungsreisende Iberville hat ewig gebraucht, um die eigentliche Mississippi-Mündung zu finden.
Wie würde eine Reportage aussehen, die wir nach dem Vorbild unseres Landes gestalten? Würde sie mit einem klaren, eindeutigen Ereignis beginnen – dem Ursprung – und dann hundert möglichen Folgen nachgehen, wie die Franzosen es getan haben, als sie Karten von der Küste anfertigten?
Wir Reporter haben nicht die Zeit, an den Ursprung eines Ereignisses zurückzukehren und jede einzelne seiner Auswirkungen zu verfolgen; jene Schäden zum Beispiel, die erst evident werden, wenn das Verbrechen, das sie ausgelöst hat, schon Jahre zurückliegt.
Als ich fertig bin, ist es sieben, und mein Kopf schmerzt vor Hunger. Ich rufe Calinda an.
»Hallo! Was gibt’s, was treibst du?«, fragt sie mit butterweicher Stimme.
»Ich bin am Verhungern. Hast du schon was vor?«
»Ich wollte gerade nach Hause. Was schwebt dir denn vor?«
»Na ja, heute ist Montag, da könnte man zu ›Jacques-Imo’s‹ ...«
»Und danach ein bisschen Funk?« Das gefällt ihr. Montags abends spielen in der »Maple Leaf Bar«, gleich neben dem altmodischen Creole-Cajun-Lokal »Jacques-Imo’s«, immer Papa Grows Funk. Und in das Gumbo bei »Jacques-Imo’s« könnte ich mich reinlegen.
»Genau. Wär das was?«
»Ich brauche zwanzig Minuten, okay?«
Wir schicken einander ein Küsschen durchs Telefon und legen auf.
Calinda verbringt ihre Tage im Büro der Staatsanwaltschaft und im Gerichtsgebäude an der Tulane Avenue. Ich habe sie daschon besucht. Zu ebener Erde passiert man die Sicherheitskontrollen, muss Handy, Kamera und
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