Toedlicher Sumpf
hättest, wär ich dann nicht diejenige, der du davon erzählen würdest?«
»Ich denke schon.« Das mit meinem Magen wird nicht besser, und ich trinke schnell einen Schluck Bier. »Und wie war es?«
»Es hieß, sie könnten zu meiner Sicherheit einen von den Ermittlern mitschicken, aber du kennst ja die Typen, die wir da haben. Was ich gebraucht hätte, wäre Will Smith gewesen, bewaffnet bis an die schönen weißen Zähne, aber bei uns sehen alle eher aus wie Stan Laurel.«
Sie haut auf den Tisch, und wir prusten beide los.
»Jedenfalls ...«, sage ich dann.
»Richtig. Jedenfalls«, fährt sie fort. »Stan Laurel und ich fahren also zu den Magnolia Projects. Und ich habe Angst. Es ist einfach unheimlich da. Ein einziges Chaos.«
Ich lasse mir nichts anmerken und nicke nur.
»Vier Kinder, die Älteste zehn, die Kleinste gerade mal drei, und sie haben alle Angst – Angst vor mir, Angst vor dem Gesetz, Angst davor, dass ihr Papa ins Gefängnis muss. Ich sehe also auf den ersten Blick, dass es nicht leicht sein wird, sie zum Reden zu bringen.« Sie isst einen großen Löffel Gumbo. Ganze Lorbeerblätter und große Stücke weiches Entenfleisch schwimmen mit dem Reis in der Sauce; am Rand der Schale hat sich orangebrauner Schaum abgesetzt. »Mmh, das ist köstlich.« Sie tupft sich den Mund ab. »Um sie ein bisschen aufzulockern, schlage ich vor, dass ich sie – die Mutter und die Mädchen – zu einer Pizza einlade, und die Mädchen sind total aus dem Häuschen, also denke ich, gut, das wird funktionieren.«
Ich spiele mit meiner Gabel und nicke wieder nur.
»Aber als wir dann durch die Projects gehen, kommen plötzlich die ganzen Verwandten aus ihren Häusern – jedenfalls sagen sie alle, dass sie Verwandte sind –, um auch eine Pizza abzukriegen. Siebzehn Leute, Nola. Essen, Getränke, alles auf meine Kreditkarte.«
Mein Gesicht ist eine reglose Maske; ich warte ab, was sie als Nächstes sagt.
»Und als ich ins Büro der Staatsanwaltschaft zurückkomme und den anderen davon erzähle, lachen die und rufen: ›Wie viele musstest du durchfüttern, Calinda?‹, und nennen mich dieRattenfängerin aus den Projects. Als wenn das lustig wäre.« Sie schaut mich ärgerlich an. »Diese Leute hatten Hunger , Nola. Die wollten einfach nur was Anständiges zu essen. Die wollten essen gehen, ein bisschen Spaß haben – Dinge, die wir als selbstverständlich betrachten.« Sie streckt einen Arm aus und weist auf die anderen voll besetzten Tische um uns her. Auf unseren eigenen Tisch. Jetzt funkeln ihre Augen. »Das ist nicht lustig. Es ist traurig .«
Ich atme auf. »Ja, das ist es.«
»Meine Kollegen sind Idioten.«
»Ja. Na ja, sie sind eben anders aufgewachsen, sie wissen es nicht besser.«
»Trotzdem!«, protestiert Calinda. »Sie hätten nur mal fünf Minuten nachdenken und sich vorstellen müssen, wie es ist.«
Ich lächle meiner Freundin zu. »Das tun die wenigsten.«
»Ja, das stimmt wohl.«
Meinem Magen geht es wieder besser, ich kann eine Gabel voll Étouffée vertragen: sämiges, intensiv nach Fisch schmeckendes Gebräu. »Und hast du Aussagen von ihnen bekommen?«
»Von den Mädchen? Ja. Nicht da in der Pizzeria – da waren zu viele Erwachsene und zu viele Cousinen und Cousins dabei.«
Ich nicke.
»Aber später, als wir wieder bei ihnen in der Wohnung waren. Da haben wir Stan Laurel vor den Fernseher gesetzt und sind in eins der Schlafzimmer gegangen. Sie haben jede Menge belastende Einzelheiten geliefert.« Sie vertilgt noch einen Löffel Gumbo mitsamt einer rosa Krabbe. »Nicht, dass sie nicht eine Riesenangst gehabt hätten, die Ärmsten. Sie wirkten total verstört.«
»Und der Mann?«
»Der geht in den Knast, das versprech ich dir«, sagt sie zufrieden. »Nicht lange vielleicht. Nicht lange genug. Und da derStaat die Rechnung zahlt, werden die Kinder nicht die Hilfe bekommen, die sie brauchen.«
»Ach ja? Und wer passt auf, wenn er wegen guter Führung nach drei Jahren rauskommt und die Kleinste gerade sechs ist?«
Sie hebt die Augenbrauen. »Du hast ja richtig aufgepasst.« Nach einem kräftigen Schluck Bier ringt sie sich zu einem Lächeln durch. »Man tut, was man kann, okay? Wahrheit und Gerechtigkeit.«
Ich erwidere das Lächeln. »Wahrheit und Gerechtigkeit.« Darauf stoßen wir an.
Dennoch hallt in meinem Kopf wider, was Tante Helene auf dem Sterbebett gesagt hat: In dieser Welt, meine Kleine, gibt es so etwas wie Gerechtigkeit nicht. Dafür musst du selbst sorgen.
Später, in
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