Tödliches Abseits (German Edition)
München, da hat uns meine Freundin vom Bahnhof abgeholt. Die kann das bezeugen.«
»Ihre Freundin? Das ist ja praktisch.« Krawatzki sah sein Gegenüber mit einem etwas spöttischen Grinsen an. »Können Sie mir bitte ihren Namen und die Adresse geben?«
Der Polizeibeamte notierte sich die Angaben Stadders. »Gut. Danke für Ihre Auskünfte. Hier haben Sie meine Karte. Wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte, rufen Sie mich bitte an.«
23
Der Fan verabscheute Alkohol, besonders aber Kollektivbesäufnisse anlässlich von Spielen seines Vereines. Wie, fragte er sich häufig, konnten die anderen so genannten Fans völlig benebelt in der Lage sein, dem Spielverlauf zu folgen, fachkundig die Leistung der Mannschaft und die einzelner Spieler zu bewerten und im Anschluss auch noch die Fernsehberichterstattung über den Spieltag aufzunehmen? Der wahre Fan tat so etwas nicht. Das taten nur die anderen.
Auch Frauen waren für den Fan tabu. Diejenigen, die er bisher kennen gelernt hatte, konnten oder wollten nicht verstehen, dass sein Herz in erster Linie für Schalke 04 schlug und seine Wochenenden damit erfüllt waren, die Spiele seines Vereines zu besuchen. Frauen verstanden nichts von Fußball, konnten Schalke nicht lieben und die Anderen hassen wie er.
Hatte Schalke 04 am Samstag ein Auswärtsspiel, fuhr er meistens schon Freitagabend in die entsprechende Stadt, suchte sich ein preiswertes Hotel in Stadionnähe und ging zeitig zu Bett. Am nächsten Morgen stand er früh auf, frühstückte und fuhr dann zum gegnerischen Stadion, um es in Augenschein und gedanklich in Besitz zu nehmen. Er prägte sich die Lage der Eingangstore ein, inspizierte die Umgebung bis ins kleinste Detail, machte sich sogar mit einem Bleistift Skizzen von der Außenansicht des Stadions in ein kleines Heft mit karierten Blättern.
Sobald die Tore – Stunden vor Spielbeginn – geöffnet wurden, betrat der Fan das Stadion. Er trug heute nur noch bestenfalls einen Schal in den Vereinsfarben, nie jedoch ein Trikot von Schalke. So konnte er vor dem Spielanpfiff das Stadion durchstreifen, die Atmosphäre aufnehmen und manchmal sogar, wenn er viel Glück hatte, in die für Zuschauer verschlossenen Bereiche gelangen. Bereiche, die normalerweise nur Spielern, Betreuern, Ordnern und Polizisten zugänglich waren.
Dort schlich er umher, versuchte einen Blick auf die vielleicht schon eingetroffene Schalker Mannschaft zu erlangen und nahm, im wahrsten Sinne des Wortes, Witterung auf. Er sog die Luft in diesem Teil des Stadions ein und schmeckte, prüfte, bewertete sie. Der Fan war sich sicher, dass jedes Stadion seinen eigenen, charakteristischen Geruch hatte.
Während des Spiels genoss er jede Sekunde. Der Fan berauschte sich an den Fahnen und Gesängen, am Kampf auf dem Platz. Am liebsten beobachtete er das Spiel vom Rand des Schalker Fanblocks aus, wie früher mit seinem Vater. Dort konnte er teilhaben an den Gesängen und Anfeuerungsrufen, musste sich aber selbst nicht daran beteiligen. Dort konnte er leiden, wenn sein Verein verlor, und sich freuen, wenn er gewann. Aber nur für sich. Der wahre Fan teilte seine Gemütsregungen nicht anderen, schon gar nicht den Anderen mit. Er trauerte allein und jubelte allein. Und er blieb allein. Wie ein einsamer Wolf.
Bei einem Auswärtsspiel Ende der Achtzigerjahre war es seit dem Ereignis seiner Kindheit zum ersten Mal wieder zu einer tätlichen Auseinandersetzung mit den Anderen gekommen. Er war wie üblich sehr früh im gegnerischen Stadion gewesen, als ihm, kurz nachdem er die Tribüne betreten hatte, drei Andere begegneten. Es war November, und da es nasskalt war und leicht nieselte, hatte er seinen Schalker Schal fest um seinen Hals geschlungen.
Einer der Anderen , er war etwa achtzehn und damit etwas jünger als er, stürzte auf ihn los, kaum dass er ihn als Schalker identifiziert hatte, und begann, auf ihn einzuschlagen. Zwei ungenaue Fausthiebe trafen den Kopf des Fans . Im ersten Moment war er zu verblüfft gewesen, um sich zu wehren. Dann zog er seine Faust, bewaffnet mit seinemSchlagring aus der Tasche und schlug zu, so fest er konnte.
Und er traf. Präzise und hart. Er hörte das Knacken, mit dem das Nasenbein seines Gegners brach, sah das Blut aus der aufgerissenen Augenbraue spritzen und blickte in das schmerzverzerrte Gesicht seines Gegenübers. Er sah die Angst in den Augen des Anderen , spürte sie schon fast körperlich. Erbarmungslos schlug der Fan ein zweites Mal zu. Und ein
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