Tödliches Abseits (German Edition)
Auswärtsspielen konnte er nichts anfangen; sie passten nicht zu den Ritualen, die er zu befolgen hatte. Auch die monatlichen Treffen in der Eckkneipe interessierten ihn nicht mehr, nachdem er festgestellt hatte, dass er weit mehr als alle anderen Mitglieder über Schalkes Fußballgeschichte wusste. Anfangs reizte es ihn, seine Klubkollegen mit Ergebnissen und Mannschaftsaufstellungen von Spielen zu überraschen, die dreißig Jahre und mehr zurücklagen. Doch es kam immer häufiger vor, dass sie ihn unterbrachen oder ihm einfach nicht zuhörten.
Der Fan zog daraus den Schluss, dass auch in einem Fanklub nicht alle Mitglieder echte Fans waren. Von da ab ging er nicht mehr zu den Klubabenden. Den Mitgliedsbeitrag überwies seine Bank auch nur deshalb noch, weil er vergessen hatte, den Dauerauftrag zu kündigen. Dann und wann wurde er noch angesprochen, wenn er bei Heimspielen auf seinem Stammplatz am Rand des Fanblocks in der Nordkurve stand, irgendwann hörten auch diese kleinen Unterredungen auf. Er wurde als Sonderling geduldet, aber nicht akzeptiert. Den Fan interessierten die Meinungen der anderen nicht. Das war ihm egal.
Einladungen seiner Arbeitskollegen zu privaten Feiern hatte er in der Regel nicht wahrgenommen. Wenn er trotzdem hingegangen war, hatte ernur still in einer Ecke gesessen und war nicht lange geblieben. Nach einiger Zeit war er auch nicht mehr eingeladen worden. Der Fan wusste schon bald nicht mehr, wann er das letzte Mal auf einer Fete gewesen war. Auch das war ihm egal.
Schließlich lebte er völlig zurückgezogen und ohne nennenswerte soziale Kontakte. Er existierte nur für Schalke.
Einmal, der Fan erinnerte sich nur sehr ungern an diesen Abend, war er mit einem Taxi nach einem Auswärtsspiel von Schalke in Bochum in das dortige Bordellviertel rund um die Gußstahlstraße gefahren. Er war stundenlang an den Fenstern vorbeigeschlichen, hinter denen die Prostituierten ihre Dienste anboten. Aufgeregt hatte er auf die spärlich bekleideten Frauen gestarrt, es aber zunächst nicht gewagt, eine der Offerten anzunehmen. Schließlich hatte er seinen ganzen Mut zusammengenommen und war an einem der Fenster stehen geblieben. Er akzeptierte den Preis, den ihm die Prostituierte nannte, und fand sich kurze Zeit später in einem Zimmer wieder, das trotz der schummerigen, rötlichen Beleuchtung eine Atmosphäre ausstrahlte, die an eine Bahnhofstoilette erinnerte. Der Fan bezahlte den vereinbarten Betrag, zog seine Schuhe, Hose und Unterwäsche aus und vor lauter Aufregung und Angst ejakulierte er vorzeitig, kaum dass die Liebesdienerin bei ihm Hand und Präservativ angelegt hatte. Den spontanen Heiterkeitsausbruch der Frau würde er nie vergessen. Hastig hatte er seine Kleidung wieder angezogen und fluchtartig das Zimmer verlassen, verfolgt vom Gelächter der Prostituierten.
Der Fan empfand auch keine Befriedigung, wenn er sich mit den Anderen prügelte. Darin unterschied er sich seiner Meinung nach von den Hooligans, für die ein Fußballspiel lediglich vorgeschobene Legitimation für Gewalttätigkeit war. Die Auseinandersetzung mit den Anderen war notwendiges Übel, sie musste sein.
Im Laufe der Zeit hatte er sich eine erfolgreiche Taktik angeeignet.
Den gekauften oder erbeuteten Trikots der gegnerischen Bundesligavereine kam bei seinen Streifzügen gegen die Anderen eine Schlüsselrolle zu. Nach dem Ende eines Heimspieles streifte sich der Fan in einem stillen Winkel das Trikot des gegnerischen Vereines über und wartete in der Nähe einer der Ausgänge des Parkstadions auf Nachzügler der Anderen .
Diese Minuten waren immer mit einem gewissen Risiko verbunden, da der Fan Gefahr lief, von anderen Schalker Fans angegriffen zu werden. Einmal hatte er den Einsatz für Schalke mit einem blauen Auge und einem lockeren Schneidezahn bezahlt, als er sich ohne Gegenwehr von drei Schalkern zusammenschlagen ließ. Aber das war ein Preis, den er zu zahlen gewillt war.
Sobald maximal zwei der Anderen das Stadion verließen, folgte der Fan ihnen in einem sicheren Abstand. Wenn keine Polizei oder weitere Andere zu sehen waren, ging er zum Angriff über. Er rief seine Opfer von hinten und bat sie um Unterstützung. Dabei stöhnte er und krümmte sich scheinbar voller Schmerzen.
In der Regel warendie Anderen sofort bereit, ihm – als einem vermeintlich Gleichgesinnten – zu Hilfe zu kommen. Der Fan wartete, bis sich seine Gegner in unmittelbarer Nähe befanden und sprühte ihnen dann Tränengas in die Augen.
Weitere Kostenlose Bücher