Tödliches Abseits (German Edition)
bitte«, presste er durch die Zähne und schüttelte den Kopf.
39
Drei Wochen, nachdem der Fan das erste Mal mit seinem Vater gesprochen hatte, kam er nach Hause und fand zum zweiten Mal eine schriftliche Nachricht seiner Mutter im Briefkasten. Es sei etwas Schreckliches passiert und er müsse sofort kommen.
Er erwog für einen Moment, diese Bitte zu ignorieren, dachte aber dann, dass dies Vater sicher nicht recht wäre, und so machte er sich unverzüglich auf den Weg nach Erle.
Zu seiner Überraschung fand er dort viele Verwandte vor, die er schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Seine Mutter fiel ihm mit tränenüberströmtem Gesicht um den Hals und teilte ihm schluchzend mit, dass seine Schwester in Bayern Opfer eines Verkehrsunfalles geworden sei, genau wie vor zwei Jahrzehnten sein Bruder.
Der Fan war wie versteinert. Zwar hatte er schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zu seiner Schwester, trotzdem spürte er eine seltsame Betroffenheit, so dass er seiner Mutter spontan zusagte, sie und einen seiner Onkel auf der Fahrt zur Beerdigung seiner Schwester nach Bayern zu begleiten.
Die Fahrt einige Tage später wurde für ihn zur Tortur. Er hatte im Fond des Wagens seines Onkels Platz genommen, um sich möglichst nicht an der Unterhaltung beteiligen zu müssen. Stattdessen wollte er in Ruhe mit Vater sprechen und ihn um Rat bitten, wie er mit diesem eigenartigen Gefühl in seinem Inneren fertig werden konnte. Aber seine Mutter drehte sich während der Autofahrt ständig zu ihm um, befragte ihn ausführlich nach seiner Arbeitsstelle und seinen Hobbys, wollte von ihm wissen, ob er eine Freundin habe. Sein Onkel sekundierte mit anzüglichen Bemerkungen über junge Männer und sturmfreie Buden.
Dann begann der Onkel, der bemerkte, dass dem Neffen dieses Gesprächsthema nicht behagte, den Fan in eine Diskussion über die letzte Weltmeisterschaft und das Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft zu verwickeln, doch er musste zu seinem Erstaunen feststellen, dass dem Fan die Nationalmannschaft mit Ausnahme der in ihr vertretenen Schalker Spieler völlig egal war. Als der Fan weiterhin einsilbig blieb, ließen sie ihn endlich in Ruhe und er konnte mit Vater sprechen.
Vater meinte, sein Gefühl sei Trauer.
Der Fan wollte das zunächst nicht glauben, da er doch nur noch selten an seine Schwester gedacht hatte. Vater jedoch meinte, das sei die Stimme des Blutes, die er verspüre. Dagegen käme man einfach nicht an. Das leuchtete dem Fan ein, und da er ohnehin immer auf Vater hörte, gab er sich dem Gefühl vollständig hin.
Die Beerdigung seiner Schwester traf ihn tief. Als der Vater gestorben war, hatte er noch nicht richtig begreifen können, was der Verlust eines nahe stehenden Menschen bedeutete. Bei seiner Schwester war das anders. Sie wurde nach katholischem Ritus beerdigt und fast das gesamte Dorf, in dem sie mit ihrem Mann gelebt hatte, war anwesend. Die Gesänge und die Predigt des Priesters klangen dem Fan noch lange in den Ohren.
Als der Sarg zum Grab getragen wurde und der Fan die Trauer seiner Mutter und seines Schwagers wahrnahm, lief er davon. Er konnte das Gefühl nicht länger ertragen. Er rannte über den Friedhof die abschüssige Straße ins Dorf hinab und bestieg den ersten Bus, der ihn in die nahe Kreisstadt brachte. Von da fuhr er mit der Bahn nach München.
Den Hauptbahnhof in München kannte er. Sein aufgewühltes Inneres beruhigte sich, außerdem sprach Vater besänftigend zu ihm. Der Fan kaufte sich eine Fahrkarte nach Gelsenkirchen und fuhr heim.
Eine Woche nach seiner Rückkehr aus Bayern hörte er dann die anderen Stimmen. Sie waren nicht eindeutig einer Person zuzuordnen, so wie das bei Vater der Fall war. Manchmal hatte er das Gefühl, seine Schwester spräche zu ihm, Vater aber meinte, dies sei unmöglich. Später vielleicht, aber der Zeitpunkt sei noch zu früh.
Die anderen Stimmen waren nicht freundlich und sanft. Sie forderten, drängten, gaben ihm unerwünschte Ratschläge. Dagegen sprach Vater nur mit ihm, wenn er ihn rief oder wirklich brauchte. Die anderen Stimmen aber mischten sich in sein Leben ein, überfielen ihn mit Fragen, Befehlen, ja sogar Beschimpfungen zu Zeiten, wo er sich auf anderes konzentrieren musste.
Die Stimmen waren nicht seine Freunde. Selbst Vater gelang es nicht immer, ihnen Einhalt zu gebieten. Dann redeten sie stundenlang auf den Fan ein, zehn oder zwanzig. Er solle aktiver gegen die Anderen vorgehen, weil Schalke sonst verlieren würde. Er
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