Tödliches Lachen
mitten in der Nacht an?«
»Wann sonst? Ich hab bis eben im Büro gesessen und mit Kunden in Übersee telefoniert. Verdammte Zeitverschiebung. Aber das interessiert dich bestimmt nicht. Tut mir auch leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe, aber ich hatte so viel zu tun und war so oft unterwegs, es hat sich einfach nicht ergeben«, sagte er, als wollte er sich rechtfertigen. »Wie schaut’s mit morgen aus?«
»Nee, geht nicht, keine Zeit. Ich hab ‘ne Menge zu erledigen, und außerdem treff ich mich mit jemandem.«
»Aha. Und mit wem?«
»Nur ein alter Freund.«
»Seit wann hast du Freunde? Kleiner Scherz.«
Mike wusste, es war kein Scherz, er hatte ja auch keine Freunde.
»Und wie war dein Tag?«
»Viel, viel Arbeit. Aber von nichts kommt nichts, das weißt du doch. Also, wann sehen wir uns mal wieder?«, fragte er ungewohnt jovial.
»Keine Ahnung, ich bin in der nächsten Zeit ziemlich ausgebucht. Ich melde mich.«
»Hast du etwa wieder jemanden gefunden?«, fragte sein Vater.
»Seit wann interessiert dich das? Und wenn, dann ist das ganz allein meine Sache.«
»He, warum so ungehalten? Hab ich dir was getan?«
»Nee, ich bin nur müde.«
»Okay, dann bis die Tage. Und halt die Ohren steif!«
»Rufst du vom Auto aus an?«
»]a, bin aber gleich zu Hause und geh ins Bett. So, da bin schon. Melde dich einfach.«
»Sicher,«
Er legte auf, schaltete den PC aus, warf einen langen Blick auf das riesige Bücherregal, in dem nicht ein Buch stand, das er nicht gelesen hatte, von den alten Griechen bis zu den Autoren der Neuzeit, von Geschichte bis zum Kriminalroman, wobei es ihm nie blutig genug sein konnte. Und natürlich standen dort auch viele Bücher über Mathematik, und bei manchen musste er einfach nur lachen, denn er war nach wie vor ein Genie auf diesem Gebiet und einige Verfasser dieser Bücher ihm nicht gewachsen. Ein Genie, das er jedoch nicht zur Entfaltung brachte, weil er es nicht wollte. Und doch sollte die Welt noch über ihn erfahren, über die andere Seite des Genies.
Er ging ins Schlafzimmer, nahm die Bibel vom Nachtschrank und schlug Genesis 19 auf, wo über die Vernichtung von Sodom und Gomorrha berichtet wurde. Dreimal las er das Kapitel und dachte: Genauso ist es doch heute - Sodom und Gomorrha. Jeder mit jedem, das habe ich doch heute erst wieder gesehen. Er legte die Bibel zurück, zog sich aus und ließ sich aufs Bett fallen. Minutenlang starrte er an die Decke, die Hände über dem Bauch verschränkt, und ließ den zurück liegenden Tag Revue passieren. Spielt ruhig alle euer dreckiges Spiel, ich werde euch schon noch zeigen, dass ich so was auch kann, ihr verfluchten Lügner! Er schloss die Augen und dachte an Svenja. Sie ist nett, aber das waren im Chat bisher alle. Nett und verlogen. Aber du, Svenja, spielst wenigstens mit offenen Karten, auch wenn du etwas Wesentliches verheimlichst. Auf jeden Fall wirst du morgen eine Überraschung erleben.
Er nahm die Kontaktlinsen heraus, legte sie in den kleinen Behälter mit der Reinigungsflüssigkeit, löschte das Licht und rollte sich in die Bettdecke. Nach wenigen Minuten schlief er ein.
Mittwoch, 20.00 Uhr
Er hielt sich seit zehn Minuten in dem recht gut besuchten Restaurant auf. Den Tisch hatte er noch am Vorabend für zwei Personen reserviert, in der Hoffnung, nicht einen Reinfall erleben zu müssen. Er trug eine moderne dunkelblaue Designer-Jeans, eine karamellfarbene Jacke aus feinstem Nubukleder, für die er ein halbes Vermögen hinblättern musste, ein weißes Hemd, dessen beide obersten Knöpfe offen standen, und braune Schuhe, die ebenfalls mehr gekostet hatten, als er in einer Woche verdiente. Seltsamerweise fühlte er sich wohl in diesen Sachen, auch wenn er so etwas zum ersten Mal in seinem Leben an hatte. Ein Glas Wasser stand vor ihm, die FAZ lag neben ihm auf dem Tisch, während er immer wieder zum Eingang schaute. Um zehn nach acht wurde er schon etwas nervös und dachte: Womöglich hat sie mich doch nur auf den Arm genommen und lacht sich jetzt ins Fäustchen. Aber nur fünf Minuten später kam sie herein, obwohl es für ihn mehr ein Schweben war, so leicht und beinahe schwerelos waren ihre Bewegungen. Und sie war noch hübscher als die Male zuvor, wo er sie nur aus der Ferne gesehen hatte. Keine Schönheit im klassischen Sinn, wie es sie so oft im Fernsehen gab, Schönheiten aus der Retorte, wie er sie nannte, diese aussagelosen Gesichter, die nichts Eigenes hatten, ausdruckslos und leer. Svenja
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