Tödliches Orakel
Wahrscheinlichkeit und Möglichkeit abklopfte.
Sam nestelte sein Handy aus der Tasche, drückte ein paar Tasten.
»Hier. 'Du bringst mich in Teufelsküche, hoffe, sie ist das wert. Von dem Telefon wurde immer nur ein Anschluss angerufen.' Dann folgt Ihre Nummer.«
»Ist das sein Stil? Diese SMS?«
Sam bemühte wieder seine schmalen Schultern. »Stil ... Ja. Schon. Diese Anspielung passt, er hat mir dauernd gesagt, ich sollte mir eine Freundin zulegen.«
»Hatte Tobias eine Freundin?«
»Nein.«
»Einen Freund?«
»Nein!«
Eine scharfe Antwort. Ich trank einen Schluck Wasser und wartete, bis Sam wieder ruhiger war. Es dauerte eine gute Minute.
»Warum fragen Sie das? Ob das sein Stil war?«
Aus der Ahnung der Möglichkeit einer Idee war jetzt immerhin schon die Möglichkeit einer Idee geworden. Ich antwortete trotzdem noch nicht, stellte meine nächste Frage.
»Wann haben Sie Tobias das letzte Mal gesehen? Wirklich gesehen? Leibhaftig und lebendig?«
»Vor ... an einem Mittwoch. Da habe ich fast immer Spätdienst, und wir haben uns gleich in einer Bar getroffen. Ist aber schon was her, weil ich ein paar Tage beruflich unterwegs war.« Sam dachte nach. »Knapp drei Wochen, ungefähr.«
»Und zuletzt am Telefon gesprochen?«
»Am gleichen Tag, als wir uns verabredet haben.«
Die Möglichkeit verflüchtigte sich ebenfalls, es blieb die Idee. Eine gute Idee. Ich sprach sie aus, auch wenn ich schon wusste, dass Sam sie in der Luft zerfetzen würde.
»Tobias könnte also schon tot gewesen sein, als Sie ihn wegen meiner Nummer angepiepst haben«, sagte ich, und wie erwartet sah Sam nicht besonders angetan aus.
»Quatsch. Er hat doch geantwortet. Er hat mir Ihre Nummer gegeben.«
»Das kann jemand getan haben, der ebenfalls Zugang zu solchen Daten hat. Denn als Sie versuchten, Tobias deswegen zu erreichen, war seine Wohnung schon durchwühlt und verlassen. Das haben Sie selbst an den Zeitungen abgelesen. Wenn Tobias nach Hause gekommen wäre, hätte er aufgeräumt. Die Polizei gerufen. Den Briefkasten leer gemacht.«
»Also wollten Sie wissen, ob das Tobias Stil war, weil Sie glauben, dass er die SMS gar nicht geschrieben hat?«
»Ja.«
»Sie glauben, dass jemand anders sein Handy hat.«
»Richtig. Vielleicht derjenige, der die Wohnung durchsucht hat. Vielleicht derjenige, der Tobias umgebracht hat. Vielleicht ist beides ein und dieselbe Person.«
Sam runzelte die Stirn. »Okay, gesetzt den Fall, das wäre so. Tobias ist tot. Jemand hat sein Handy und so getan, als wäre er Tobias, als er meine SMS gelesen hat. Warum auch immer. Was schließen Sie daraus?«
»Moment, eins noch: Wann haben Sie die Karte für die Sitzung bei mir gekommen?«
»Äh ... ziemlich kurz vor dem Termin.«
»Der war am Montag.«
»Genau. Die Karte kam Samstag. Letzten Samstag.«
Ich scrollte durch meinen Kalender, zählte die Tage. »Wenn neun Zeitungen in Tobias Briefkasten waren, dann hat er den seit vergangenem Freitag nicht mehr leer gemacht. Einen Tag später erhielten Sie die Karte. Per Post?«
Sam schüttelte den Kopf, sehr sicher. »Nein, es war kein Stempel drauf. Keine Briefmarke. Und es stand nur mein Name drauf, keine Anschrift.«
»Also hat man sie Ihnen am Samstag in Ihren Briefkasten gesteckt. Nachdem jemand am Tag zuvor Tobias Wohnung durchwühlt hat.« Ich machte eine Pause, sah Sam prüfend an. »Sie wollten wissen, was ich daraus schließe. Folgendes: Es ging ursprünglich gar nicht um Sie, sondern um Tobias. Er ist vor neun Tagen verschwunden. Und er war sehr wahrscheinlich schon tot, als man Sie zu mir geschickt hat, deshalb habe ich schon das Treffen zwischen Ihnen beiden nicht mehr sehen können.«
Ich fand diese Schlussfolgerung absolut logisch, aber Sam schüttelte sofort den Kopf.
»Das glaube ich nicht.«
»Warum wehren Sie sich gegen diese Interpretation? Sie hatten Angst, Sie könnten Ihren Freund umgebracht haben. Indirekt. Weil Sie ihn mit in diese Sache hinein gezogen haben, als Sie ihn wegen meiner Nummer kontaktiert haben. Jetzt finden wir heraus, dass er da wahrscheinlich längst tot war. Zumindest aber bis über beide Ohren in der Sache drinsteckte – in der Sache, in die Sie erst am Samstag verwickelt wurden, nämlich durch diese Karte. Erleichtert Sie das nicht?«
Sam sackte in sich zusammen, ich ließ ihn nachdenken.
»Doch«, sagte er schließlich leise. »Wenn es so war, würde mir das sehr helfen. Meinem ... Gewissen. Aber wir wissen nicht, seit wann er tot ist. Er sah übel
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