Tödliches Orakel
selbst.«
***
»Jetzt erzählen Sie schon.«
Sam saß auf der Couch, strahlte – und er hatte noch nicht einmal protestiert, wie er sonst immer protestierte. Weil ich nicht neben ihm saß, weil er kein Sushi bekam.
»Es war etwas drin. In dem Schließfach.«
»Das sehe ich. Sie sind erleichtert.«
»Oh ja!« Sam nickte, so kräftig, dass seine Haare mitwippten. »Sehr erleichtert. Ich habe genug. Ich habe seit Tagen nicht mehr geschlafen. Nicht mehr klar denken können.«
»Und Sie denken, dass das jetzt vorbei ist.«
»Ja!«
»Was haben Sie gefunden?«
»Eine CD.«
»Sonst nichts?«
»Was hätten Sie sich denn noch erwartet?«
Ein Brief mit ein paar erklärenden Worten, dachte ich, schüttelte aber nur den Kopf.
»Nichts, vergessen Sie's. Was ist auf der CD drauf?«
Sam zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Ich habe keinen Computer mehr, schon vergessen? Alles geklaut. Ich habe keinen Fernseher, kein Internet. Wenn ich nicht bei einer Zeitung arbeiten würde, könnte es sein, dass ich das Ende der Welt verpasse.«
Ich lächelte. »Wenn Sie mir die CD geben, kann ich nachsehen. Ich habe hier einen Computer.«
Sam zögerte, schüttelte dann den Kopf.
»Nein. Nicht, weil ich Ihnen nicht vertraue. Ich will nicht wissen, was darauf ist, wir sollten es beide nicht wissen. Ich rufe die Nummer von Tobias an und sage wem auch immer, dass ich die CD habe. Dann gebe ich sie denen, und alles ist vorbei.«
Nicht der Plan, den ich gemacht hätte, aber immerhin: ein Plan. Sam schien die CD und damit sein Problem so schnell wie möglich loswerden zu wollen, und dafür hatte ich Verständnis. Mir ging es mit Sam ganz ähnlich.
»Gut«, sagte ich.
»Würden Sie bitte ... nachsehen, ob das Okay ist? Ob das reicht?«
»Ob Sie überleben?«
»Ja.«
»Natürlich.«
Ich ging hinaus, Sam stand auf und ich unterließ es, ihn zurechtzuweisen. Meine Augen flatterten über ihn hinweg, ich registrierte die Ringe unter seinen Augen, die Müdigkeit in seinem Blick, dann landete ich auch schon in seinem mit einem unappetitlichen Bahn-Sandwich gefüllten Magen. Fabrik-Brot, billige Margarine, schlabberiger Salat, eine nicht besonders edle Salami. Der Kaffee, mit dem er diesen ganz sicher teuer bezahlten Snack herunter gespült hatte, roch nach dem Pappbecher, in dem er serviert worden war. Die Sekunden beschleunigten sich, die Minuten rasten an mir vorbei, dann die Stunden und die Tage. Aber aus den Tagen wurde keine Woche. Nein, es waren nur wenige Tage, die ich sah, viel zu wenige. Und noch etwas war falsch: Diese Tage endeten nicht mit einem sich auf dem Boden krümmenden Sam, fanden ihren Abschluss aber trotzdem mit einem grellen Schmerz, der erst nach viel zu langer Zeit zu einem dumpfen, stumpfen Vergessen wurde. Einem ewigen Vergessen, das trotzdem die Kälte und Schärfe des Schmerzes in den Sekunden davor nicht aufwiegen konnte. Ich keuchte vor Schreck, mein Magen revoltierte mit einem scharfen Zusammenkrampfen gegen das, was ich gesehen hatte, dann schloss ich die Augen und das Bild verschwand.
»Was?«, fragte Sam, während ich ein paar Schritte nach hinten taumelte. »Was haben Sie gesehen?«
»Moment«, stieß ich hervor, zu mehr reichte meine Kraft nicht, dann tastete ich nach der Klinke und ging wie in Trance zurück in mein Zimmer, sackte dort auf den Stuhl.
Ich trank mein Glas leer, atmete tief durch, aber es half nichts. Zum ersten Mal. Ich dachte an das kalte, klare Wasser in meinem Pool. Dachte an Berge im kühlen Morgenlicht. An frisch gefallenen Schnee. An den blau schimmernden Eisberg, den ich einmal im Nordmeer gesehen hatte. An alles, was mich abkühlen konnte, was mich wieder auf Kurs brachte, was mich beruhigte. Ich brauchte Minuten, in denen ich nur vor mich hinstarrte und versuchte, das, was ich da gerade gesehen hatte, zu verstehen. Und zu entscheiden, was ich damit tun sollte.
Als ich schließlich wieder auf den Monitor sah, blickte ich in Sams Gesicht. Seine Erleichterung war verschwunden, ich hatte ihm wieder Angst gemacht. Hatte ihm Angst gemacht mit meiner eigenen Angst. Ich versuchte mein Kundenlächeln und ahnte, dass es nur eine schlechte Parodie seines einstigen Glanzes war, aber es war alles, was ich jetzt zustande brachte.
»Es tut mir leid, aber manchmal ist es anstrengender als sonst. Aber Sie haben es geschafft«, sagte ich, so sicher und überzeugend, wie ich konnte. »Es findet eine Übergabe statt, in dieser Wohnung. Sie treffen den Mann,
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