Tödliches Orakel
glauben scheint, dass ich etwas habe. Etwas, was Tobias mal gehabt hat. Oder was Tobias mir gegeben hat. Was Tobias mir erzählt hat.«
»Und?«
»Es gibt nichts. Gar nichts.«
»Sie haben gesagt, man hätte Ihren Computer gestohlen. Und CDs.«
»Ja. USB-Sticks auch. Ich hatte einige, weil die praktisch sind. Bescheuerte Formen. Ein kleines Skateboard, einen Totenschädel. Einen Bart Simpson. Ein Schweinchen.«
»Und das Schweinchen ist verschwunden? Seine Freunde auch?«
»Ja. Habe ich bei der Polizei nicht angegeben, weil die Dinger nicht teuer sind und weil nichts drauf war. Nichts Wichtiges. Aber es ist im Grunde alles weg, worauf man Daten speichern kann. Bei mir und bei Tobias.«
»Gut, dann denken Sie weiter über ihr Leben nach. Ihr digitales Leben. Damit können Sie Ihr Analoges eventuell retten.«
Ich trug den Japan-Bildband behutsam hinüber ins Wohnzimmer, und als ich zurückkam, hatte Sam aufgelegt.
Tag 7 – Sonntag, 6. August
Am nächsten Morgen läutete es gegen acht Uhr an meinem Tor. Das kam höchstens ein- oder zweimal im Jahr vor, wenn ein besonders eifriger Vertreter meine Einfahrt bemerkte, aber ich ahnte schon, wen ich heute dort vorfinden würde. Ich kam gerade aus der Dusche, trug wenig mehr als ein Handtuch und tapste auf bloßen Füßen zur Haustür. Ich warf einen Blick auf den Bildschirm und sah wie erwartet die mir mittlerweile vertraute, schmale Gestalt: Sam stand unter der Kamera an der Klingel, ich drückte den Knopf für die Gegensprechanlage.
»Sie werden lästig«, sagte ich statt einer Begrüßung.
»Kann ich reinkommen?«
»Nein.«
»Kommen Sie dann kurz raus? Ich habe eine Idee.«
Sam wirkte aufgekratzt, auch meine Absage schien seine gute Laune nicht besonders zu trüben.
»Zwei völlig unabhängige Dinge«, sagte ich. »Wo ich bin, hat mit Ihrer Idee nichts zu tun.«
»Sie sind unmöglich.«
Er lachte, als er das sagte, und ich war mir sicher, dass etwas passiert war. Etwas Gutes.
»Und Sie wiederholen sich. Was ist die Idee?«
»Sie haben gefragt, ob Tobias mir etwas gegeben hat. Zum Aufbewahren oder so. Hier nimm, geheime Sachen. Böse Sachen. Sie haben von digital geredet. Und ich habe an Computer gedacht, an Speichermedien.«
»Ja, das wäre eine Möglichkeit. Er könnte Ihnen aber auch etwas erzählt haben.«
»Beides falsch. Er hat mir nichts gegeben - aber er hätte es tun müssen.«
»Sie sprechen in Rätseln. Und das ist wenn schon meine Rolle«, rügte ich ihn milde, er lachte.
»Okay. Also: Er hatte noch etwas von mir. Etwas, das mir gehört.«
Ich tapste ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden, Sam griff in seine Hosentasche und wedelte mit etwas Schmalem, metallisch Schimmerndem vor der Kamera herum: Viel zu nah und zu schnell, der Autofokus schaffte es nicht, sich scharf zu stellen.
»Wackeln Sie nicht so«, verlangte ich. Der Gegenstand verschwand daraufhin ganz, wurde wieder abgelöst durch Sams Gesicht.
»Es ist ein Schlüssel.«
Sam klang triumphierend, und ich lächelte nun ebenfalls, auch wenn er das nicht sehen konnte: Er hörte sich erleichtert an. Als hätte sich die seit Tagen auf seinen Kopf gerichtete Waffe als Wasserpistole entpuppt.
»Aha.«
»Ja. Mein Schlüssel von meinem Schließfach. Tobias hatte auch einen.«
»Warum hatte Tobias einen Schlüssel zu Ihrem Schließfach?«
»Ich habe Ihnen von der ausgebrannten Studentenbude erzählt. Ist Ihnen schon mal alles verbrannt, was Sie hatten?«
»Nein.«
»Seien Sie froh. Bei mir war alles weg. Wir mussten mitten in der Nacht in Shorts auf die Straße. Es hat gebrannt wie Zunder, den Rest hat die Feuerwehr mit dem Wasser erledigt. Nicht nur Klamotten und Bücher sind da drauf gegangen. Abi-Zeugnis. Uni-Unterlagen. Im Computer gespeicherte Arbeiten und Notizen. Personalausweis. Reisepass. Selbst mein Impfpass. Und so was bekommen Sie nicht mal eben wieder, Sie laufen sich die Füße wund. Also habe ich ein Schließfach gemietet, und da meine Unterlagen deponiert. Was man nicht jeden Tag braucht. Tobias hat sein Zeug dazugelegt. Er hatte einen Schlüssel, ich hatte einen. Ich habe seinen nie zurückgefordert, habe meine Sachen da raus genommen, als ich weggezogen bin. Seine waren noch drin, er war zwei Wochen länger in Göttingen.«
»Göttingen?«
»Ja, da haben wir studiert. Ich hatte das Schließfach völlig vergessen, die Rechnung lief auf die Firma meiner Eltern. Scheinbar hat da irgendein Buchhalter jedes Jahr die Gebühr bezahlt, und keinem ist aufgefallen, dass
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