Tödliches Orakel
diagnostizierte Sam nach ein paar Minuten, nahm sein Glas und setzte sich neben mich auf das Sofa.
Ich rückte ein Stück zur Seite.
»Du magst mich nicht«, sagte er, ich schüttelte den Kopf.
»Darum geht es nicht.«
»Worum dann?«
Ich starrte auf das Bücherregal, verharrte bei dem Japan-Bildband.
»Du störst meine Kreise.«
»Kreise?«
»Ja. Wie in einem Zen-Garten, sauber geharkte Kreise im Kies. Perfekte Wellen, ruhige Wellen. Ich bin ein Stein, der inmitten dieser wunderschönen Kreise liegt. Und du latscht mit deinen Turnschuhen da durch, ohne Rücksicht. Du störst meine Kreise.«
»Das tut mir leid, aber sonst komme ich nicht zu dir. Ich muss einmal da durch.«
»Warum?«
»Weil ich gerne bei dir bin.«
»Und genau das ist unmöglich. Nicht, weil du es bist. Es kann niemand hier sein. Innerhalb meiner Kreise.«
Sam trank einen Schluck Wein, zog die Beine mit den nackten Füßen aufs Sofa, was sehr entspannt aussah. So, als wäre er hier zuhause und nicht ich.
»Erklär es mir.«
»Was genau?«
»Alles. Warum du allein in einem Haus wohnst, das aussieht wie ein Weltraumbahnhof.«
»Weil es mir genauso gefällt.«
»Mir gefällt das Haus auch. Aber ich meine mehr. Dein Leben. Warum du kannst, was du kannst. Warum du ein Leben führst, in dem dich niemand ansehen soll. Ich kann ja verstehen, dass es dich nervt, wenn ich dauernd in deinem Garten rum stehe, aber hier ist alles so gebaut, dass die Leute draußen bleiben. Keine Fenster zur Straße. Kein Namensschild neben der Klingel. Diese Mauer um den Garten, die Kameras überall. Eine Waffe. Eine Geheimnummer. Frau Berger, die dich abschirmt.«
»Du hast die Alarmanlage vergessen. Und Kasimir, der ungebetene Besucher verbeißt.«
Sam schien das nicht witzig zu finden.
»Hast du Angst, dass mal jemand durchdreht, wenn du ihm was Falsches erzählst?«
»Ich erzähle nie etwas, das falsch ist.«
»Du weißt, was ich meine. Etwas, was den Kunden wütend macht.«
Ich zögerte. Ja, bei Olegs zweitem Besuch hatte ich schreckliche Angst gehabt. Vor der Waffe, den kalten Augen, der Wut in seiner Stimme und der unverhohlenen Drohung seinen Worten. Ich hatte schreckliche Angst gehabt, und ich schützte mich davor, dass dergleichen erneut passierte. Oder dass es ernste Folgen hatte, für mich oder meinen Kunden. Indem ich mein Haus zu einer kleinen Festung umgebaut hatte und aufpasste, was ich tat, wenn ich im Magen war. Doch Sam hatte etwas anderes gemeint, als er von meinem Leben sprach.
Ich starrte auf das Feuer, Sam wartete.
»Bitte«, sagte er nach einiger Zeit des Schweigens. »Ich habe dir auch von mir erzählt.«
Ich schnaubte. »Du hast mir erzählt, dass du für eine Zeitung schreibst und Politologie in Göttingen studiert hast. Was du von mir wissen willst, ist was ganz anderes. Viel privater. Und ich musste dir diese paar Infos schon aus der Nase ziehen.«
»Mea culpa. Wir können ja eine gegenseitige Fragestunde einlegen.«
»Was ich dich gefragt habe, hatte mit deinem kleinen Problem zu tun. Ich habe dir diese Fragen rein beruflich gestellt.«
»Jetzt hast du auch ein kleines Problem: Jemand wird dich erschießen. Also stehst du mir Rede und Antwort.«
Ich lachte nur.
»Komm schon«, drängelte er. »Bitte. Ich will das einfach verstehen. Und es interessiert mich.«
Ich schoss einen Sekundenblick auf Sam ab: Er lümmelte neben mir auf dem Sofa und sah mich an. Natürlich sah er mich an, denn es war selbstverständlich, dass man denjenigen ansah, mit dem man sich unterhielt. In der normalen Welt. Nur ich musste wegschauen, als Einzige. Weswegen ich mich von der normalen Welt fernhielt, soweit es ging.
»Eine Bedingung«, forderte ich. »Starr mich nicht so an.«
»Wo soll ich sonst hingucken?«, fragte er, ich gestikulierte zum Kamin.
»Du hast Feuer gemacht, es flackert schön. Schau es an. Ich kann dich nicht ansehen, also ist es nur gerecht, wenn du auch woanders hinschaust.«
Sam sortierte seine langen Glieder um, wandte den Kopf ab.
»So okay?«
»Ja. Danke.«
»Also. Seit wann kannst du dieses ... Sehen? Schon immer?«
»Nein. Seit dem 15. Dezember 2007.«
»Wow, so genau. Was ist passiert?«
»Das Naheliegende. Ich bin beinahe gestorben.«
»Natürlich.«
»Ich habe als Lektorin in einem Verlag gearbeitet. Schulbücher und so.«
Sam sparte sich diesmal die flapsige Zwischenfrage, also fuhr ich fort.
»Wir hatten jedes Jahr eine Weihnachtsfeier. Wir waren alle relativ jung, deswegen war das eine Party mit
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