Tödliches Paradies
Pelle. Und jetzt kommen Sie auch noch!« In seiner Erregung verfiel er wieder in das alte, distanzierte Sie.
Sie lächelte. »Erstens brauchst du nicht zu schreien, Tim, und zweitens kannst du mich ruhig weiter duzen. Tu' ich ja auch. So eine Mama-Figur bin ich wirklich nicht, als daß du auf dem Sie bestehen müßtest, nur weil du ein Vollakademiker bist. Gut, schlag zurück, aber dreh nicht durch, Tim. Das sind zwei ganz verschiedene Stiefel.«
»Ich dreh' überhaupt nicht durch.«
»Nein.« Helene Brandeis grinste. »Ich weiß, du bist die Ruhe selbst. Aber jetzt zur Sache! Und wundere dich bloß nicht, wenn die Frage nach Melissas Vergangenheit auch bei mir auftauchte. Jeder hat ein Recht auf seine Vergangenheit, er kann darüber reden oder sie verschweigen – wer hat das denn gesagt? Du doch, Tim! Und warum? Weil du ihr bei dieser ganzen Unfallgeschichte, bei der sie so Schwierigkeiten hatte, darüber zu sprechen, nicht zu nahe rücken wolltest. Auch ein Ausdruck von dir … Sie selbst hat es mir sogar einmal erklärt, damals, als sie jeden Tag zum Tee kam, um dem verrückten Biest von ›Farah‹ eine Spritze zu geben: Tim ist so rücksichtsvoll, er vermeidet das Thema, wie er nur kann. Dabei wäre ich manchmal selbst dankbar, mit ihm darüber zu reden. Gut, ich hatte diesen Unfall, und die Folgen waren ein traumatischer Schock. So nannten es zumindest die Psychologen damals. Und er, er hält sich daran. Er behandelt mich wie ein rohes Ei. Das ist Originalton Melissa.«
»Und? War das verkehrt? Jetzt hören Sie schon auf damit.«
»Du heißt das«, korrigierte Helene Brandeis mit unerbittlicher Nachsicht. »Na gut, dann trink erst mal einen Cognac auf dein Bier. Jetzt kommt noch etwas. Hier!« Sie legte ihren scheußlichen Zigarillo endlich weg und griff in ihre Tasche. Was sie herauszog, waren drei Seiten schreibmaschinenbeschriebenen Thermopapiers: »Da, hab' ich dir mitgebracht. Paschke hat mir das noch in aller Frühe heute morgen durchgefaxt.«
»Gefaxt?«
»Aber sicher. Natürlich habe ich ein Faxgerät auf dem Hügel. So was braucht der Mensch heutzutage. Vor allem, wenn er im Aufsichtsrat einer Kugellagerfabrik sitzt wie ich.«
»Und wer ist Paschke?«
Sie sah ihn an aus diesen großen, kornblumenblauen, wissenden Augen.
»Ein Freund. Paschke-Wiesbaden … Ich hab' noch einen Paschke; Paschke II. Der war mal Pferde-Trainer in Baden-Baden. So ein kleines, mageres Kerlchen. Paschke-Wiesbaden wiederum ist rund, dick und gemütlich. Ein Kriminaler. Ex-Kriminaldirektor vom BKA. Und so ein Pensionär hat seine Beziehungen. Da reicht ein Knopfdruck oder Anruf.«
»Aber um Himmels willen, was hat denn Melissa mit dem …«
»Nichts hat sie. Warum sollte sich auch das Bundeskriminalamt für sie interessieren? Aber er hat!«
»Er?«
»Fred Fischer. Ihr ehemaliger Arbeitgeber. Der, der den Unfall damals gebaut hatte. Sieh mal, hier: Das eine Blatt, das ist sie, Melissa. Die beiden anderen Blätter sind Material über Fischer. Paschke nennt so was einen ›Lebenskalender‹. Den brauche jeder Kriminalist, wenn er sich mit einem Fall beschäftige. Die Daten der letzten Jahre, die Strecke, die einer durchfährt bis zu dem Zeitpunkt, an dem es kracht. Aber zunächst mal Melissa …«
Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, griff Tim selbst nach Helene Brandeis' Zigarillos. Er nahm eine heraus, zündete sie jedoch nicht an, sondern lehnte sich zurück und blickte hoch zu diesem unwirklichen, blaugläsernen Insel-Himmel. Kondensstreifen durchschnitten ihn. Unermüdlich trugen die Flugzeuge Menschen heran. Die meisten waren erfüllt von irgendeiner Erwartung, von Glück, Sehnsucht. Und ihre Probleme reisten mit. Und die Geheimnisse …
»Hier haben wir's«, vernahm er die sachliche, leise Stimme der alten Frau: »Klinger, Melissa. Geboren am 14.3.59 in Neuburg an der Donau. Stammt aus gutbürgerlichem … etc., etc -- Aber jetzt wird's interessant: Melissa Klinger absolvierte ihr Biologiestudium in Heidelberg mit so viel Erfolg, daß ihr noch vor dem Diplom von dem Fischer-Pharma-Labor in Heidelberg eine mit dreitausendfünfhundert DM dotierte Stelle angeboten wurde. Bereits nach dreimonatiger Tätigkeit erhöhte der Inhaber des Betriebs, Fred Fischer, diese Summe um weitere tausend Mark monatlich, was in dem kleinen Betrieb einiges Aufsehen erregte, zumal diese Großzügigkeit einem nicht nur fachlichen Interesse zugeschrieben wurde. Als aufgrund der Vorkommnisse in der Fischer-Pharmazie Mitte der
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