Tödliches Paradies
schreckliche, mahlende Geräusch von zerfetzendem Metall.
Sie war eine Zeitlang bewußtlos, doch nicht lange. Da sie angegurtet gewesen war, war sie nicht aus dem Auto geschleudert worden. Das hatte ihr wohl das Leben gerettet. Der Sitz neben ihr war leer, die Windschutzscheibe geborsten.
Melissas Körper wies keine anderen Verletzungen auf als einen tiefen Schnitt oberhalb des rechten Knies. Trotzdem vermochte sie sich nicht zu bewegen. Reglos in ihrem Gurt hängend, war sie von dem Fahrer eines Militär-Lkws gefunden worden. Ärzte im Unfallkrankenhaus in Heppenheim diagnostizierten eine leichte Gehirnerschütterung, ein Schleudertrauma und einen schweren psychischen Schock. Am selben Abend noch wurde Fred Fischer in der Universitätsklinik in Heidelberg einer ersten Notoperation unterzogen. Sie rettete ihm das Leben, doch seine schwere Wirbelsäulenverletzung machte ihn zu einem Mann, dessen Körper nie mehr dem Kopf gehorchen würde.
Melissa hatte ihn nicht wiedergesehen.
Die Erinnerung an Fred Fischer aber wurde sie nicht los. Als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, versuchte sie gegen ein dunkles, fast irrationales Gefühl von Schuld anzukämpfen. Wochenlang verfiel sie in tiefe Depressionen. Sie war vollkommen handlungsunfähig, bis sie die einzig vernünftige Entscheidung traf, und selbst die war ihr von einem befreundeten Psychologen vorgeschlagen worden: Sie löste ihre Wohnung auf und fuhr nach München, um dort eine Anstellung auf Probe im Max-Planck-Institut anzunehmen.
Die gespenstische Katastrophenfahrt mit Fischer aber lastete auf allem, was sie tat und dachte, bis sie dann ihn traf, diesen langen, schlaksigen Menschen mit den beiden dunklen, störrischen Haarwirbeln und dem gleichzeitig bohrenden und so treuherzig-freundlichen Blick unter den dichten Augenbrauen. Er tat es mit einer Selbstverständlichkeit, die sie fast betäubte und zugleich dankbar machte. Tim nahm sie einfach an der Hand und führte sie hinaus in eine andere, in seine Welt …
Nun waren die Schatten zurückgekommen.
Aberwitzig oder nicht, sie war Fred Fischers Gefangene – und damit Gefangene ihrer eigenen Vergangenheit. Nun war er wieder da, aufgetaucht aus dem Nichts …
Dies war die eine Tatsache, die sie akzeptieren mußte, die andere erfüllte sie nur mit Staunen: Sie hatte ihre Furcht vor Fischer verloren. Sie hatte sie abgelegt wie ein Kleid, aus dem sie herausgewachsen war. Sie wunderte sich auch über die Klarheit, mit der sie ihre Situation begriff: Gut, du bist in seiner Hand. Das glaubt auch er, davon ist er fest überzeugt. Aber eines ist sicher: Auch du hast Macht über ihn. Und du hattest diese Macht von Anfang an. Du wolltest sie dir nur nicht eingestehen. Du warst zu jung, zu unerfahren.
Jetzt hat sich alles geändert. Und darauf beruht sein Spiel, denn darin sieht sein krankes Hirn den Reiz der Situation. Er spielt es nach seinen Regeln. Noch …! Aber die lassen sich ändern. Irgendwie, irgendwann, bei irgendeiner Gelegenheit, die er falsch einschätzt, kommst du zum Zug.
Und dann ist es mit dem ganzen Horror zu Ende.
Die Fahndungsmeldung war raus. Und wieder sah Tim Rigos dicke Finger vor sich. Die Finger der linken Hand. Mit der rechten hatte er einen nach dem anderen umgebogen. »Jetzt schalten sich alle ein, Doktor: Das Kommando der Guardia Civil. La Rural. Die Staatspolizei. Viertens die Gemeindepolizei, die sowieso. Dann der Zoll. Sechstens Verkehrspolizei. Siebentens Hafenpolizei. Alle sind benachrichtigt. Auch am Flughafen weiß man Bescheid.«
»Flughafen? Wieso, um Himmels willen? Was soll denn meine Frau …«
»Das weiß ich doch nicht, Doktor. Aber Mallorca ist nun mal eine Insel.«
Das war Mallorca – und ob! Bei jedem Blick, den die Kurven der Serpentinen freigab, war die Aussicht auf das Meer größer und schöner. Diesmal fuhr Tim nicht in den Ort, sondern zum Puerto von Pollensa. Er fuhr schnell und sehr konzentriert. »No se preocupe, Doktor«, hatte Rigo gesagt. »Machen Sie sich bloß keine Sorgen.« Der hatte gut reden! In Tim war nicht ein Funken Vertrauen in den Apparat, den ihm der Guardia-Civil-Feldwebel so stolz geschildert hatte.
Er vertraute nur noch sich selbst.
»Mediziner zu sein bedeutet in erster Linie, das eigene analytische Denkvermögen einzubringen. Bei jeder Diagnose kommt es darauf an, erst mal das Ende des Fadens zu finden …«
Auch einer dieser weisen Sprüche seines Professors und Doktorvaters in Göttingen. Gut, Professor Sawitzky! Aber wenn
Weitere Kostenlose Bücher