Toedliches Verlangen
Ecke des überladenen Schreibtisches. Ohne sich hinzusetzen, griff Myst nach der Maus, während sie sich dem Monitor zuwandte. Die Sternenschauer des Bildschirmschoners verblassten. Der Monitor präsentierte ihr einen schlichten schwarzen Hintergrund mit einem Fenster, das um Benutzernamen und Passwort bat.
Der Moment der Wahrheit. Hatte das Krankenhaus ihren Zugang gesperrt? Wusste die Verwaltung überhaupt, dass sie verschwunden war?
Sie biss sich auf die Unterlippe und setzte sich auf den Drehstuhl. Ihre Hände zitterten, als sie tippte, fast fürchtete sie, der Computer würde ein Alarmsignal ausstoßen und Diebin, Diebin, Diebin rufen. Sie versuchte es zweimal, vertippte sich, löschte ihr Passwort und schrieb es erneut, Bilder von der Innenansicht einer Gefängniszelle vor Augen.
Schließlich schaffte sie es, hielt inne, ihr Finger schwebte über der Entertaste. Mit einem »Bitte, lieber Gott« drückte sie das letzte Mal zu. Der Computer dachte einen Moment lang nach, dann … Bingo. Sie war drin.
Myst saß auf der Stuhlkante und gab Vor- und Nachnamen ihrer Patientin ein. Carolines Akte tauchte auf dem Bildschirm auf.
Nach einem Doppelklick rangen Hoffnung und Angst miteinander, während sie das Dokument an den Drucker schickte und durch die Unterlagen scrollte.
»Bitte, lass es hier drinstehen. Ich brauche nur … heilige Scheiße.«
Ihr blieb der Mund offen stehen, als die Laborergebnisse auftauchten. Sie beugte sich näher an den Monitor und las den Bericht noch einmal. Der Anblick überzeugte sie nicht. Kopfschüttelnd flüsterte sie: »Hämophilie.«
War das überhaupt möglich?
Die Bluterkrankheit bekamen normalerweise nur Männer, ein genetischer Defekt, vererbt von Mutter an Sohn. Man erkrankte nicht einfach so daran. Ein Patient kam damit zur Welt, es hatte etwas mit dem X-Chromosom zu tun und …
»O mein Gott.« Sie schlug die Hand vor den Mund, um ein Stöhnen zu unterdrücken. O nein … nein, nein, nein. Hämophilie konnte man behandeln. Mit den richtigen Medikamenten … wenn sie die Testergebnisse gehabt hätte … wenn sie es gewusst hätte, hätte sie Carolines Leben retten können.
Sie stützte die Ellbogen auf die Tischkante und legte ihr Kinn ab, starrte auf den Monitor, ging die Tabelle noch ein mal durch. Diese verdammten Labortechniker. Sie hätten da s Ergebnis schneller ermitteln müssen. Wenn sie einfach …
Aber das war nicht fair.
Sie wusste es, noch während sie sie verfluchte. Wie alle im Krankenhauskreislauf ertranken die Leute, die die Proben bearbeiteten, in Arbeit … zu viele Patienten und zu wenig Zeit. Aber das Wissen verschaffte ihr keine Erleichterung. Kein Verständnis der Welt konnte die schrecklichen Tatsachen aufwiegen.
Ihre Patientin war an einer behandelbaren Krankheit gestorben, hatte einen kleinen Jungen ohne Mutter zurückgelassen.
Mit einem leeren Gefühl in ihrem Inneren saß sie in dem verlassenen Büro und lauschte dem Rattern des alten Druckers, während er Seite um Seite ausspuckte. Als der Bildschirmschoner sich anschaltete, trocknete sie ihre Wangen und schob den Ärmel ihrer Jacke nach oben, um auf die Uhr zu sehen. Zehn Minuten waren bereits abgelaufen. Sie musste hier raus, durfte nicht auf ihrem Hintern herumsitzen und darauf warten, dass der Schock nachließ und ihr Verstand wieder einsetzte. Gleich würde die Sekretärin hier auftauchen. Sie sollte sich die Seiten schnappen und …
Gelächter hallte durch den Flur.
Myst erstarrte, als sie das Klacken des Türschlosses und das Quietschen der Angeln hörte, als die Tür aufging und die Stimmen lauter wurden. Sie erhaschte einen Blick auf einen weißen Arztkittel. Sie sprang auf und riss Carolines Akte aus der Druckerablage. Noch während sie die Seiten in ihre Tasche stopfte, rannte sie um den Schreibtisch herum.
Gott stehe ihr bei. Sie waren vor der Zeit zurückgekommen, und jetzt steckte sie wirklich in Schwierigkeiten.
Auf dem Revier roch es nach angebranntem Kaffee und schlechter Laune. Ersteres drehte Angela den Magen um. Das Zweite verstand sie, schließlich … hey. Ein Großteil der Lass-mich-gefälligst-in-Ruhe-Atmosphäre des offenen Büros, das sie mit den anderen Detectives des Seattle Police Departments teilte, stammte schließlich von ihr.
Die anderen deuteten die Zeichen richtig und sprachen sie nicht an. Auch wenn ein paar der Mutigeren die Augenbrauen hoben und abschätzende Blicke in ihre Richtung warfen. Klar, neugierige Geister blieben nicht gern im
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