Toedliches Verlangen
würden diejenigen, mit denen sie öfter zusammenarbeitete, wissen, dass sie als vermisst galt. Und im schlimmsten Fall suchte die Polizei bereits nach ihr und fragte die Angestellten über ihre Gewohnheiten aus, wühlte in ihrem Leben herum, um das Rätsel um Carolines Tod und Gregors Verschwinden zu lösen.
So oder so, sie hätte verloren.
Hinter ihr erklang Lachen, hallte von den hohen Decken d es Foyers wider. Sie warf einen Blick über die Schulter und …
Perfekt.
Eine Schar Krankenschwestern trat aus dem Sonnenschein ins Gebäude, sie hatten sich offensichtlich etwas zum Mittagessen geholt. Als sie vorbeiliefen, schloss Myst sich ihnen unbemerkt an, eine von vielen in einer Gruppe. Eine bessere Tarnung gab es nicht.
Während sie ihrem Geplauder zuhörte, sog sie den normalen Rhythmus ihres Tages in sich auf. Vor weniger als einer Woche war das hier auch ihr Leben gewesen. Jetzt fühlte es sich hohl an, so leer, dass sie es nicht beschreiben konnte. Seltsam, wie ein Mensch sich in so kurzer Zeit so sehr verändern konnte, aber die Realität kämpfte nun mal mit harten Bandagen. Und so blieb ihr nur eine Richtung. Vorwärts. Einen Fuß vor den anderen setzen und ihr Leben weiterleben. Nur eine Frage blieb. Lief sie auf Bastian zu oder von ihm weg?
Myst schüttelte den Kopf und vertagte die Entscheidung. Baby … kein Baby … mit diesem ganzen Durcheinander wurde sie im Moment nicht fertig. Nicht, solange sie sich innerlich so zerschunden fühlte, dass ihr sogar das Atmen wehtat.
Die Gruppe blieb vor einer Reihe Aufzüge stehen. Myst löste sich von ihr, lief um eine Ecke herum und fand den Treppenaufgang. Während sie die Stufen hinaufstieg, zwang sie sich zur Konzentration: stellte sich den vierten Stock vor, rief sich die Praxisräume in Erinnerung, vor welchen von ihnen Empfangsangestellte saßen, mit denen sie bereits zusammengearbeitet hatte, vor welchen nicht.
Das Schild zum vierten Stock kam in Sicht, bevor sie bereit war. Myst stand auf dem Treppenabsatz und ließ die Schultern kreisen, um die verspannten Muskeln zu lockern. Sie würde es schaffen. Schnell rein. Noch schneller wieder raus, und sie hätte all die Informationen, die sie brauchte.
Sie ergriff den metallenen Türknauf, zog die Tür auf und trat in den Flur. Hinter ihr fiel die Falle laut ins Schloss. Sie wandte sich nach rechts, musterte die hellgelben Wände und die blauen Türen. Wie Bücher in einem Regal reihten sie sich in perfekter Symmetrie aneinander und fassten den Korridor von beiden Seiten ein. Stimmengewirr drang durch einige der Türen: Patienten, die auf eine Untersuchung warteten, Schwestern, die Fragen stellten, Telefonklingeln gemischt mit dem Summen der Neonröhren.
Je weiter sie ging, desto ruhiger wurde es. Die Gynäkologen saßen ganz am Ende des Flurs. Und sie waren auch ihr Ziel. Oft kam ein Anruf aus dem Krankenhaus, rief sie aus dem Büro auf die Gebärstation. Außerdem war gerade Mittagszeit und …
Perfekt.
An einer Tür klebte ein Saugnapf, an dessen Haken ein Schild hing. Eine Uhr mit schwarzen Ziffern und roten Zeigern stand auf zwölf Uhr dreißig, und die Notiz darunter: Bin gleich zurück.
Myst sah auf die Uhr. Sie hatte zwanzig Minuten, bevor die Dame vom Empfang zurückkommen würde.
Sie blickte nach rechts und links, stellte sicher, dass der Flur leer war, dann streckte sie die Hand nach der Klinke aus, betete …
Die Tür öffnete sich beim ersten Versuch. Gott sei Dank. Sie hatte mit aller Macht darauf gehofft, aber Empfangsdamen waren unberechenbare Wesen. Manche schlossen die Büros ab, als hätten sie eine Kiste Gold unter ihrem Schreibtisch. Andere waren entspannter und nahmen einfach an, die Patienten würden nach einem Blick auf das Schild in die Cafeteria gehen und warten, bis wieder jemand da war.
Mit einem letzten Blick überprüfte Myst, ob sie alleine war, und schlüpfte durch die Tür. Alle Lichter waren an, die gepolsterten Stühle mit ihren abgegriffenen Armlehnen st anden ordentlich aufgereiht da, genau wie die Magazine auf den Beistelltischen. Hinter einer halbhohen Wand gegenüber dem Wartebereich stand der Empfangstisch. Weiße Aktenordner mit bunten Tabellen lagen im Postausgang. Ein größerer Stapel türmte sich schief im Posteingang, ein Zeugnis der überarbeiteten, unterbezahlten medizinischen Sekretärin.
Manche Dinge änderten sich nie.
Sie schulterte die Tasche und betrat mit schnellen Schritten das private Büro des Arztes. Ein alter Computer stand in einer
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