Toedliches Verlangen

Ungewissen. Sie genauso wenig. Und an letzte Nacht konnte sie sich überhaupt nicht erinnern.
    Okay. Das stimmte nicht ganz. Ein paar Bruchstücke spuckte ihr Gedächtnis aus: helle blaue Augen und den Buchstaben R.
    R. Angela runzelte die Stirn. War es der Anfangsbuchstabe eines Namens? Einer Adresse?
    Sie hing in ihrem Stuhl, rieb sich die Stirn und beobachtete das hektische Treiben durch die Wimpern. Wie gewöhnlich herrschte reger Betrieb auf der Wache: Leute telefonierten, brachten Papierkram durcheinander oder schufen noch mehr davon, tranken die Brühe, die man hier Kaffee nannte. Sie würde warten, vielen Dank. Auf gar keinen Fall würde dieses Zeug das untere Ende ihrer Speiseröhre sehen. Nicht, wenn sie sich nicht übergeben wollte.
    Sie fühlte Macs Anwesenheit, bevor sie ihn sah. Wie immer rauschte er in den Raum wie ein Hurrikan, versetzte alle Anrainer in Angst und Schrecken und veranlasste sie d azu, ihre Sachen zu packen und sich aufzumachen. Mit einem Lächeln beobachtete sie die Völkerwanderung, genoss den sinkenden Lärmpegel, als den anderen Detectives plötzlich einfiel, dass sie noch etwas Wichtigeres zu tun hatten.
    Ihr Partner stellte einen Kaffeebecher vor ihr auf die Schreibtischunterlage.
    »Gott segne dich«, murmelte sie, als sie danach griff.
    »Lange Nacht gehabt?« Er lehnte sich gegen ihren Schreibtisch und nippte an seinem Kaffee.
    Als Gewohnheitstier bestellte er jeden Morgen dasselbe: extragroß, schwarz, ohne Zucker, ohne Milch. Angela gefiel die Vorhersehbarkeit. Tag oder Nacht, es spielte keine Rolle. In ihrem Koffein-Ritual lag etwas Beruhigendes, und auch sie würde niemals davon abweichen, nahm immer einen Latte mit viel Milchschaum.
    Sie trank einen Schluck, seufzte und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Ja.«
    Er grinste. »War ja auch Zeit, dass du mal ein bisschen Spaß hast. Jemand, den ich kenne?«
    Gute Frage. Eine, die sie nicht beantworten konnte. Und da es keine Option war, dies zuzugeben, log sie: »War kein Kerl involviert.«
    »Mhm.«
    Sie starrte ihn finster an. »Glaubst du, ich wäre so schlecht gelaunt, wenn ich Sex gehabt hätte?«
    »Kommt auf den Typen an.« Mac genoss es, sie zu foppen, und seine blauen Augen blitzten, als er mit den Schultern zuckte. »Wenn er nicht gut war …«
    »Ach, sei still.« Sie stellte den Kaffee mit einer entschlossenen Bewegung auf ihren Schreibtisch und griff nach dem braunen Aktenordner. »Sag mir lieber, was heute ansteht.«
    Macs Miene wurde plötzlich ernst. »Ich komme gerade aus dem Labor.«
    »Wie viele Tote?«
    »Ich habe keinen der Idioten umgebracht«, sagte er mit einem Knurren in der Stimme, das sogar im Tierreich Anerkennung gefunden hätte.
    »Bravo, Mac.« Als er schnaubte, lächelte sie. Punkt eins für Team Angela in der Racherunde. Der Kerl hatte Nerven … sie zu fragen, ob sie letzte Nacht Sex gehabt hatte. »Willkommen in der zivilisierten Welt.«
    »Sie haben die Ascheproben verloren, Ange.«
    Sie blinzelte. Was für Ascheproben? Sie hatten … heilige Scheiße. Mit ihrem Gehirn war wirklich etwas nicht in Ordnung, wenn sie sich nicht einmal an die Beweismaterialliste erinnern konnte. Was war letzte Nacht passiert? Irgendetwas Seltsames. Irgendetwas …
    Himmel. Warum konnte sie sich nicht erinnern?
    Mac fuhr sich mit einer Hand durch das dunkle Haar, stieß sich von ihrem Schreibtisch ab und ging zu seinem eigenen. Ihre Arbeitsplätze lagen gegenüber, die Tische dicht aneinandergeschoben. Als er sich setzte, begegnete sie seinem Blick. »Das Zeug ist verschwunden. Es ist, als …«
    »Hätte es jemand mitgenommen?«
    »Genau. Aber darauf gibt es keinerlei Hinweise.« Er schüttelte frustriert und unruhig den Kopf. »Ich bin die Digitalaufzeichnungen der Kamera durchgegangen, Frame für Frame. Nichts Ungewöhnliches.«
    Angela runzelte die Stirn. »Dann war es jemand von drinnen.«
    »Ja … wahrscheinlich. Die Interne Ermittlung ist dran, spricht mit den Technikern, aber das bringt uns nichts.«
    Nein, das tat es nicht. Genauso wenig wie die Löcher in ihrem Gedächtnis. Sie klappte den Fallordner auf und sagte: »Okay. Schauen wir uns alles noch mal an. Vielleicht …«
    Macs Handy plärrte los, und sie zuckte zusammen. Mann, sie wünschte wirklich, er würde diesen Klingelton ändern. Es war die Hölle, wenn sie Kopfschmerzen hatte.
    »MacCord.« Als die Stimme am anderen Ende der Leitung erklang, verharrte Mac reglos auf seinem Stuhl. Die Härchen in Angelas Nacken stellten sich auf, als ihr