Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
Gewirr der kleinen Gässchen erneut die Orientierung verloren. Dann sah er eine Touristengruppe, die einem Führer mit Fähnchen folgte und einer von Weiden gesäumten Allee zustrebte. Die Leute unterhielten sich gestikulierend und deuteten dabei auf Wegweiser zum Park. Das konnte für Chen eine praktische Abkürzung zurück ins Erholungsheim sein.
Also folgte er der Gruppe bis zum Eingang des Parks, wo ein großes Schild ein Eintrittsgeld von dreißig Yuan forderte. Das mochte dadurch zu rechtfertigen sein, dass der Park die schönste Aussicht der Stadt bot. Er hingegen brauchte nur seine Dauerkarte vorzuzeigen, ein weiteres Privileg für den »ranghohen Kader«.
Im Park tummelten sich unzählige Touristen, vor allem Tagesausflügler aus den umliegenden Städten. Einige davon kamen wohl auch aus Shanghai, denn er hörte, wie sich ein junges Pärchen in breitem Shanghai-Dialekt unterhielt. Die Frau war im vierten oder fünften Monat schwanger und lächelte zufrieden. In der Hand hielt sie ein Paar buntbemalter Babypuppen aus Ton, ein typisches Andenken aus Wuxi.
Am Seeufer wartete eine Menschenmenge auf eines der großen Rundfahrtschiffe. Diese modernen, luxuriösen Ausflugsdampfer, die silbrig in der Sonne funkelten, sahen aus, als stammten sie aus einem Hollywoodfilm, und wollten so gar nicht zu Chens eigenen Erinnerungen passen.
Richtung Westen, unweit der Anlegestelle, fotografierten sich Ausflügler gegenseitig vor einem gewaltigen Felsen, auf dessen flacher Vorderseite vier riesige rote Schriftzeichen prangten: »Bao Yun Wu Jue«. Ursprünglich war damit die Lage des Sees, eingebettet in die Königreiche Wu und Yue, gepriesen worden, doch da man die ersten beiden Zeichen auch als »schwanger« lesen konnte, galt der Fels im Volksglauben mittlerweile als glückverheißend für junge Paare mit Kinderwunsch und war zu einem beliebten Fotohintergrund geworden.
Nachdem Chen an einer Bronzeschildkröte vorbeigekommen war, die den Namen des Parks versinnbildlichte, entdeckte er ein Teehaus im traditionellen Baustil – weißgekalkte Wände, zinnoberrote Säulen, Fenster mit Schnitzwerk und ein längliches gelbes Seidenbanner, das mit dem Schriftzeichen für Tee bestickt war. Auf der Terrasse saßen zahlreiche Gäste; sie tranken Tee, spielten Poker oder chinesisches Schach und genossen den entspannenden Blick über die riesige Wasserfläche, über die weiße Segel wie kleine Wölkchen dahinglitten.
Der Ausblick war atemberaubend. Doch für Einheimische, die ihn jeden Tag genießen konnten, war dies vermutlich nicht mehr als ein Ort zum Teetrinken.
Chen suchte sich einen freien Bambustisch, wo er einen von Bäumen umrahmten Blick auf den schimmernden See hatte. Von hier aus wirkte das Wasser nicht so dunkel wie an der Anlegestelle.
Die Bedienung stellte eine mit Bambus ummantelte Thermoskanne und eine Tasse mit einer Portion Teeblätter auf seinen Tisch.
»›Vor dem Regen‹ aus diesjähriger Ernte, die beste Teesorte, die wir führen«, sagte sie und goss die Blätter mit heißem Wasser auf.
Der See schillerte in sanftem Grün. Chen griff nicht gleich zu seiner Tasse, vielmehr dachte er daran, was Shanshan ihm über das Wasser erzählt hatte.
Dann nahm er sich eine Zeitung von einem Ständer unweit seines Tisches, doch nach einem Blick auf die Titelseite, die Lokalpolitiker als Redner bei einer Wirtschaftskonferenz zeigte, legte er sie wieder weg.
Shanshans Bericht hatte nachhaltigen Eindruck auf ihn gemacht. Umweltschutz war für Chinesen bislang kein Thema gewesen; unter Mao hatten sie gehungert – und während der drei Jahre der sogenannten Naturkatastrophen Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre waren viele verhungert, ebenso während der Kulturrevolution. Es war ums Sattwerden und um das blanke Überleben gegangen, ganz gleich mit welchen Mitteln. Unter Deng Xiaoping hatte China dann erstmals wirtschaftlich aufgeholt, doch nun war, wie Deng es formuliert hatte, »Fortschritt die oberste Priorität«; wieder war für den Umweltschutz kein Platz auf der Agenda.
Es verwunderte daher nicht, dass man Shanshan als der Umweltschutzbeauftragten der Fabrik das Leben schwer machte und sie sogar bedrohte.
Er überlegte, ob er die örtliche Polizeidienststelle einschalten sollte. Er hatte ja jetzt ihre Handynummer, da wäre es kein Problem, die ominösen Anrufe zurückzuverfolgen.
Außerdem war in ihrer Fabrik jemand umgebracht worden.
Er zog sein Handy heraus und wählte die Nummer von
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