Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
mit der Aufnahme von Liu als Redner bei einer nationalen Konferenz war verschwunden. Stattdessen stand dort jetzt ein Metallschild mit der Aufschrift »Büroleitung«.
»Zunächst interessiert mich, was Sie uns über Liu berichten können«, sagte Chen.
»Er war ein außergewöhnlicher Chef. Als er die Leitung übernahm, stand die Firma am Rande des Ruins. Es ist nicht einfach, einen riesigen Staatsbetrieb mit dreitausend Angestellten wieder auf die Beine zu bringen, aber er hat es geschafft.«
»Über seine außergewöhnlichen Leistungen haben wir bereits aus Presseberichten erfahren. Aber was hielten Sie von ihm als Mensch?«
»Er war großzügig, intelligent und stets hilfsbereit.«
»Eine andere Frage: Da Sie eng mit ihm zusammengearbeitet haben, können Sie uns sicher auch etwas über sein Familienleben sagen.«
»Darüber hat er wenig gesprochen.«
»Würden Sie es als glücklich bezeichnen?«
»Ich weiß nicht.« Sie zögerte, dann fügte sie hinzu: »Aber für einen vielbeschäftigten Mann wie ihn hätte man besser sorgen müssen.«
»Wir haben uns mit seiner Frau unterhalten.« Chen blickte ihr jetzt direkt in die Augen. »Sie hat uns da einiges erzählt.«
Er führte das nicht weiter aus und ließ die anschließende Stille schwer im Raum lasten. Huang verfolgte fasziniert das Vorgehen des Oberinspektors.
»Was immer sie Ihnen gesagt hat«, antwortete Mi schließlich, ohne Chen dabei anzusehen, »in meinen Augen war sie eine schlechte Ehefrau. Jedem hier war klar, dass er sich zu Hause nicht wohlfühlte.«
»Können Sie mir Beispiele dafür geben?«
»Ich weiß das alles nur vom Hörensagen. Er und seine Frau waren Klassenkameraden, damals in Shanghai. Sie stammte aus einer guten Shanghaier Familie, er aus einem armen Dorf in der Provinz Jiangxi. Gegen den Widerstand der Familie hat sie unter ihrem Stand geheiratet und ist ihm nach Wuxi gefolgt. Daher lebte sie in der Vorstellung, dass er sie – sozusagen als Kompensation für dieses Opfer – bestens versorgen und in jeder Hinsicht auf sie hören musste. Eine typische Shanghaierin eben.«
»Aber er war doch dann sehr erfolgreich in Wuxi.«
»Genau. Doch als überarbeiteter Manager hätte er eine fürsorgliche Frau gebraucht, die ihm ein harmonisches Zuhause bereitet. Die hätte sie leicht sein können, nachdem sie ihren Job an den Nagel gehängt hatte und die ganze Familie nur noch von ihm lebte. Aber nein. Ständig musste sie nach Shanghai fahren, ob werktags oder am Wochenende. Er war oft allein im Haus.«
»Ihre Familie lebt in Shanghai. Da war es doch ganz natürlich, dass sie gelegentlich hinfuhr.«
»Wer weiß, was sie wirklich dort getrieben hat? Soweit ich gehört habe, war sie der Schwarm der ganzen Schule und hatte jede Menge Verehrer.«
»Ach, tatsächlich.«
»Und ich kann Ihnen auch sagen, warum er manchmal die Nacht in seinem Privatbüro verbrachte. Natürlich hat er bis spätabends gearbeitet, denn die gesamte Verantwortung lag ja auf seinen Schultern. Aber häufig hatte er auch einfach keine Lust, nach Hause zu gehen. Das Privatbüro war der einzige Platz, wo er sich entspannen konnte. Aber selbst diesen Rückzugsort hat sie ihm nicht gelassen. Einmal, als er auf Geschäftsreise war, kam sie rüber und hat das ganze Apartment auf den Kopf gestellt.«
Huang hörte schweigend zu. Es erstaunte ihn, dass Chen sich bei der Befragung von Mi ebenfalls auf Frau Liu als Tatverdächtige zu konzentrieren schien. Zwar hatte auch er nach dem Gespräch am Tatort diese Möglichkeit überdacht, doch nach anfänglichem Enthusiasmus erschien ihm das Szenario, das durch keinerlei Indizien gestützt wurde, immer unwahrscheinlicher.
Die Anschuldigungen, die Mi gegen die Frau ihres Chefs vorbrachte, waren nur verständlich. Dennoch hatte sie zunächst jedes Wissen um sein Familienleben abgestritten. Sie konnte sich natürlich denken, dass den Beamten Geschichten über sie zu Ohren gekommen waren, und nun versuchte sie, ihre Beziehung zu Liu herunterzuspielen. Indem sie Frau Liu als schlechte Ehefrau hinstellte, wollte sie ihr eigenes Verhalten rechtfertigen. Aber dieses psychologische Detail war für die Ermittlungen kaum von Belang. Es zeigte nur ein anderes Bild der Unternehmergattin.
Dennoch brachte das Gespräch sie weiter. Zum einen waren Frau Lius häufige Fahrten nach Shanghai bestätigt worden, keine großen Ausflüge, aber immerhin ließ sie ihren Mann dafür häufig allein. Warum?
Und dann die Sache mit der Schulprinzessin und
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