Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
ihren heimlichen Bewunderern. Was hatte es damit auf sich? Sollte Frau Liu tatsächlich einen Liebhaber in Shanghai haben – und das wäre bei der bröckelnden Ehe der Lius kein Wunder –, dann ergäbe sich daraus ein neues Motiv, das sie bislang übersehen hatten. Der Liebhaber von Frau Liu, wer immer das war, könnte aus Liebe oder Geldgier gemordet haben.
»Glauben Sie, dass Liu vorhatte, etwas an seiner familiären Situation zu ändern?«, fragte Chen, unerschütterlich seine Richtung verfolgend.
»Wie meinen Sie das?«
»Hatte er Scheidungspläne?«
»Nein, zumindest weiß ich nichts davon. Wie schon gesagt, er hat seine familiären Probleme nicht mit den Angestellten besprochen, bloß gelegentlich ein wenig gejammert.«
Chen nahm seine Zigaretten zur Hand und klopfte eine aus der Packung. Dann sah er Mi fragend an. »Haben Sie etwas dagegen?«
»Nein. Liu hat auch geraucht.«
»Sie haben sicher gehört, dass ein gewisser Jiang derzeit als Hauptverdächtiger gilt«, fragte Chen unvermittelt. »Was können Sie uns über ihn sagen?«
»Ach, Jiang«, sagte sie, »ja, der ist ein paarmal hier gewesen. Natürlich um mit Liu zu sprechen. Worüber sie geredet haben, kann ich Ihnen nicht sagen. Das habe ich auch den Herren von der Inneren Sicherheit gesagt.«
»Könnten Sie das genauer ausführen«, mischte Huang sich ein, »vor allem was den fraglichen Abend betrifft?«
»Jiang rief hier an, das dürfte drei Tage vor Lius Ermordung gewesen sein, aber er bestand darauf, mit Liu persönlich zu sprechen. Deshalb kann ich nicht mehr dazu sagen. Und …« Sie räusperte sich und fuhr dann fort: »Und an jenem Morgen erwähnte Liu, dass er sich mit jemandem wegen einer unangenehmen Angelegenheit treffen müsse.«
»Hat er gesagt, wann und wo?«
»Nein, soweit ich mich entsinnen kann, nicht.«
»Oder mit wem?«
»Es wurde kein Name genannt.« Und nach einer Pause: »Ach, und vor zwei, drei Monaten habe ich gehört, wie Jiang und Liu sich im Büro gestritten haben.«
»In diesem Büro hier?«
»Ja, in Lius Zimmer.«
»Worum ging es dabei?«
»Sie verstummten, als ich hereinkam, aber ich habe ein paar Worte aufgeschnappt. Es ging, glaube ich, um Umweltprobleme.«
»Können Sie sich noch an das Datum erinnern?«
»Das muss im März gewesen sein, Anfang März. Ja, jetzt weiß ich’s wieder, am Tag vor dem Frauentag.«
In dem Moment kam ein großgewachsener Mann in das Vorzimmer geeilt und begrüßte Huang mit lauter Stimme: »Hallo, Genosse Polizeimeister Huang. Welcher Wind weht Sie heute her?«
»Guten Tag, Geschäftsführer Fu.«
»Derzeit nur Stellvertretender Geschäftsführer, wie ich betonen muss. Nennen Sie mich doch einfach Fu. Und das ist …?«
»Mein Kollege Chen«, sagte Huang knapp.
»Herzlich willkommen. Darf ich Sie in mein Büro bitten?«
»Vielen Dank, Geschäftsführer Fu«, sagte Chen und zu Mi gewandt meinte er: »Vielleicht haben wir ein andermal noch ein paar Fragen an Sie. Falls Ihnen inzwischen etwas einfällt, dann rufen Sie bitte an. Am besten die Nummer von Polizeimeister Huang, mit meinem Handy ist etwas nicht in Ordnung.«
Dann folgten sie Fu in sein Büro. Er wies ihnen zwei lederbezogene Stühle vor dem soliden Eichenschreibtisch zu.
Das musste früher Lius Büro gewesen sein. An der Wand hinter dem Schreibtisch hing eine beeindruckende Galerie gerahmter Auszeichnungen, die meisten ehrten Liu, doch unter der gläsernen Schreibtischauflage entdeckte Chen auch einige Fotos von Fu.
»Ist das im Bund-Park aufgenommen?«, fragte Chen und deutete auf eines der Bilder. Es zeigte Fu vor dem Park, eine Hand wies mit stolzer Geste auf den Fluss.
»Ja, ich komme aus Shanghai. Inzwischen gibt es ja so gute Verbindungen, mit dem neuen Schnellzug ist man in nur einer Stunde dort. Das Foto wurde vor zwei Wochen gemacht.«
»Sie fahren also oft nach Hause?«
»Ja, letzten Samstag war ich in Shanghai, und am Wochenende fahre ich wieder hin.«
»Sie wissen sicher, weshalb wir hier sind, Genosse Stellvertretender Geschäftsführer Fu«, sagte Chen.
»Ja. Liu muss Gerechtigkeit zuteil werden. Er hat Großartiges für die Firma geleistet und das Ruder herumgerissen. Für diesen Erfolg hat er hart gearbeitet. Wir werden den von ihm eingeschlagenen Weg unbeirrt weiterverfolgen. Die Ermittlungen unterstützen wir selbstverständlich in jeder Form.«
Fu sprach voll Respekt und Dankbarkeit, wie es sich für einen jüngeren Nachfolger gehörte, doch er bediente sich dabei einer
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