Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
Chen.
Das als Büro genutzte Apartment lag in einem sechsstöckigen Gebäude, dessen rosafarbener Anstrich im Sonnenlicht strahlte wie frisch aufgetragen. Sie stiegen in den dritten Stock hinauf, ohne jemandem zu begegnen.
Die Tür zu Lius Apartment war noch immer versiegelt; Huang öffnete mit einem Universalschlüssel. Das sogenannte Privatbüro bestand aus einem großen, mit Parkett ausgelegten Wohnzimmer, einem angeschlossenen Esszimmer mit kleiner Küche sowie drei Schlafzimmern. Eines davon diente als Gästezimmer, ein anderes war der Arbeitsraum, in dem man Lius Leiche gefunden hatte.
Chen inspizierte die anderen Räume, bevor er in das Bürozimmer zurückkehrte. Es war zweckmäßig eingerichtet. Auf dem L-förmigen Schreibtisch standen ein Computer mit großem Flachbildschirm, ein Drucker und eine Telefon- und Faxanlage. An der einen Wand waren mehrere Stühle neben einem maßgefertigten Regal voller Bücher und Magazine aufgereiht. An die gegenüberliegende Wand war der Flachbildschirm eines Fernsehers montiert.
»In diesen neuen Apartmenthäusern haben die Nachbarn wenig Kontakt miteinander. Das gilt besonders für jemanden wie Liu, der sich höchstens zweimal die Woche hier blicken ließ und dann meist abends. Am fraglichen Abend hat ihn keiner der Anwohner bemerkt, und die Wohnungstüren sind ziemlich schalldicht. Jemand aus dem vierten Stock hat gegen neun Uhr eine junge Frau die Treppe herunterkommen sehen, konnte sie aber bei der schlechten Beleuchtung im Treppenhaus nicht genau erkennen. Sie kann auch jede andere Familie im Haus besucht haben.«
»Zum Beispiel im fünften oder sechsten Stock«, bemerkte Chen, der ein gerahmtes Foto vom Regal genommen hatte und es eingehend studierte. Es zeigte Liu vor ebenjenem Bücherregal zusammen mit einem jungen Mann. Liu war stämmig und mittelgroß, hatte weit auseinanderliegende, durchdringende Augen, ausgeprägte Brauen und ein kantiges Kinn. Der junge Mann an seiner Seite blickte eher nachdenklich; er war schlaksig und hatte ein feingeschnittenes Gesicht.
»Das ist sein Sohn Wenliang«, sagte Huang. »Er hat letzten Sommer ein Praktikum in der Firma gemacht.«
Nachdem Chen das Foto zurückgestellt hatte, sah er sich die Bücher durch. Eine sonderbare Mischung, zu der auch einige Modejournale zählten.
»Liest ein Manager so etwas?«
»Nun, Mi war ja auch öfter hier«, sagte Huang.
»Und jetzt erzählen Sie mir noch einmal, was Ihnen an diesem Tatort ungewöhnlich vorkommt«, forderte Chen ihn auf.
»Es gab keine Spuren eines gewaltsamen Eindringens oder Kampfes. Der Mörder war Liu also vermutlich bekannt. Der Angriff muss ihn überrascht haben. Das könnte auch erklären, warum der Wachmann an diesem Abend keinen Besuch für Liu vermerkt hat. Möglicherweise war es also jemand aus dem Haus oder der Wohnanlage.«
»Aber Sie haben doch vorhin gesagt, dass Liu kaum Kontakt zu seinen Nachbarn hatte«, wandte Chen ein. »Natürlich kann man nicht ausschließen, dass ein Nachbar der Mörder war. Aber was für ein Motiv sollte er haben?«
»Das führt uns zu einem anderen möglichen Szenario. Jemand, der die Wohnanlage genau kennt, könnte den Wachmann passiert haben, ohne gemeldet worden zu sein. Einen unsicher wirkenden Besucher würde das Wachpersonal aufhalten, aber einem gutsituierten Herrn mit forschem Auftreten dürfte es kaum Schwierigkeiten machen.«
»Oder einem, der in einer Limousine vorgefahren kam«, bestätigte Chen, als hätte er das selbst schon ausprobiert. »Haben Sie die Fotos vom Tatort bei sich?«
»Ja.« Huang zog einen Ordner mit den Aufnahmen hervor. »Die haben Sie schon alle gesehen.«
Chen legte einige auf dem Schreibtisch aus, studierte sie genau und ließ den Blick anschließend durch den Raum schweifen, als wollte er die Fotos mit der Realität abgleichen.
Er ließ sich beinahe zehn Minuten dafür Zeit. Dann ging er kurz ins Wohnzimmer, kehrte aber gleich darauf ins Büro zurück. Ohne ihn zu unterbrechen, blieb Huang dem Oberinspektor immer auf den Fersen, das Notizbuch hatte er dabei stets griffbereit.
»Hier wurde nichts verändert?«
»Nein, natürlich nicht. Niemand – nicht einmal Frau Liu – hatte Zugang zu dem Apartment; sie war nur ein einziges Mal in Polizeibegleitung hier, um zu überprüfen, ob etwas entwendet wurde. Abgesehen natürlich von den Gegenständen, die zum Test ins Labor geschickt wurden.«
»Haben Sie davon eine Liste?«
»Ja, hier.«
Chen las sie sorgfältig durch, legte sie dann auf
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