Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
Lius haben offenbar noch keine Schritte unternommen, um ihre Scheidung einzuleiten. Allerdings hat Frau Liu bei einem Essen mit dem Anwalt scherzhaft bemerkt, dass ihr im Fall eines Börsengangs die Hälfte von Lius Aktienanteil zufiele.«
Das warf ein neues Licht auf verschiedene Aspekte des Falls. Zum einen hatte Frau Liu damit ein Motiv, das sehr viel plausibler erschien als das von Jiang. Eine betrogene Ehefrau, die auf Rache sann und mit der Möglichkeit rechnen musste, dass ihr Mann sich noch vor dem Börsengang von ihr scheiden ließ zugunsten einer kleinen Sekretärin, die bereits im Hintergrund mit den Hufen scharrte. Damit hätte Frau Liu alles verloren. Sie hatte Zugang zum Privatbüro ihres Mannes und wusste, wo er sich in jener Nacht aufhielt. Außerdem würde es alle Punkte erklären, die Chen am Tatort aufgefallen waren – Lius Leiche im Büro anstatt im Wohnzimmer, keine Hinweise auf einen Kampf sowie die Position der Stühle. Alles passte.
»Das war ein schlauer Schachzug, Chef. Ich meine, sich beim Anwalt zu erkundigen. Und natürlich war es durchaus kein Scherz, als sie behauptete, nach dem Börsengang die Hälfte der Aktien zu bekommen«, sagte Huang anerkennend. »Liu war gut im Vertuschen. Aber seine Frau ebenfalls. Sie müssen sich beide beim Anwalt über die Folgen einer Scheidung informiert haben. Und ob Liu Ernst machen würde, das wusste sie besser als jeder andere.«
Der einzige Schwachpunkt in diesem Szenario war die Tatsache, dass Frau Liu ein Alibi hatte. Doch im Gegensatz zu den Leuten in den Krimis, die Chen übersetzte, würden Chinesen einem Meineid keine große Bedeutung beimessen. Zum einen schwor man hier nicht auf die Bibel, und zum anderen waren diejenigen, die Frau Lius Alibi bestätigten, eng mit ihr befreundet. Die Absicht, einer Freundin in Not zu helfen, würde alle Bedenken in den Hintergrund drängen.
Dann riss Chen sich von seinen Überlegungen los. »Zeit für den nächsten Punkt auf unserer Agenda, Huang. Statten wir dem Firmenbüro einen Besuch ab.«
»Gut.« Huang klappte sein Notizbuch zu.
Er war schon mehrfach dort gewesen und schlug einen Weg vor, der sie durch die Wohnanlage zum Hintereingang der Chemiefabrik führen würde. »Keine fünf Minuten zu Fuß, Chef. Wir können den Wagen hier stehen lassen.«
Huang wollte sich lieber nicht am Fabriktor registrieren lassen, schon gar nicht in Begleitung des Oberinspektors. Seine Kollegen wären ziemlich irritiert, wenn sie von einer solchen Eigenmächtigkeit erführen.
»Wir machen’s wie bei dem Gespräch mit Frau Liu. Sie leiten die Ermittlungen«, schlug Chen unterwegs vor.
Im Wächterhäuschen saß ein alter Pförtner, vermutlich ein pensionierter Arbeiter, der nur beflissen nickte, als Huang ihm seine Dienstmarke hinhielt. Dann ließ er sie ohne weitere Umstände passieren.
»Ab acht Uhr abends ist dieses hintere Tor geschlossen«, erklärte Huang. »Aber man kann es von innen öffnen. Liu hat einmal ein wichtiges Dokument in der Firma vergessen, da musste er den Wachdienst rufen und sich aufsperren lassen.«
»Verstehe«, sagte Chen. »Der Weg ist also eine praktische Abkürzung.«
Die Büros der Firmenleitung befanden sich in einem zweistöckigen Gebäude inmitten des Fabrikgeländes. Huang und Chen waren im Vorzimmer mit Mi verabredet.
»Was kann ich diesmal für Sie tun, Polizeimeister Huang? Ach, und das ist …?« Eine gertenschlanke Frau Anfang zwanzig kam hinter ihrem Schreibtisch hervor. Sie hatte mandelförmige Augen, einen sinnlichen Mund und den straffen Körper eines Mannequins. Ihre Garderobe bestand aus einem weißen nabelfreien Nackenträger-Top, Jeans und hochhackigen Sandaletten, die ihre rotlackierten Zehennägel zur Geltung brachten.
Huang konnte sie damit allerdings nicht beeindrucken; sie war nicht sein Typ.
»Sie wissen, wieso ich hier bin, Mi. Das ist mein Kollege Chen. Wir möchten mit Ihnen über den Mord an Liu reden.«
Mi schaltete ihren brandneuen Computer aus, den sie, so schien es Huang, bei seinem letzten Besuch noch nicht gehabt hatte. Dann bot sie den Besuchern Platz in zwei schwarzen Sesseln an.
»Darüber haben wir doch schon gesprochen, Polizeimeister Huang«, sagte sie.
»Ich bin neu in der Ermittlungsgruppe«, schaltete Chen sich ein. »Alles, was Sie mir erzählen können, wird hilfreich für mich sein.«
»Vor allem konkrete Einzelheiten«, ergänzte Huang, dem noch eine weitere Veränderung am Schreibtisch aufgefallen war. Der silberne Bilderrahmen
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