Töte, Bajazzo
Krallenfingern meinen Hals…
***
John Sinclair hatte die kleine Suite verlassen, aber die Furcht vor der Zukunft war geblieben. Mirella Dalera versuchte mit allen Mitteln sich abzulenken, sie wollte sich mit dem Fremden beschäftigen, der ihr nicht mehr so fremd vorkam, sondern zu einem Vertrauten geworden war. Sie akzeptierte auch nicht, daß sich dieser Mann mit Antiquitäten beschäftigte, er mußte einen viel spannenderen Beruf haben. Bisher hatte sie sich nicht getraut, ihn danach zu fragen. Sie hätte ihn gern zurückgehalten, damit er in ihrer Suite die Nacht verbrachte, doch dazu hatte sie sich nicht überwinden können. Jetzt war sie allein und mit ihr die verfluchte Furcht. Wie von einem scharfen Messer wurde sie von ihr malträtiert. Sie war überall, sie drang in ihren Körper ein und umschloß ihre Seele. Eine Angst, die ihr unbekannt war. Nie hatte sie derartige Gefühle durchleben müssen, selbst als Teenager nicht. Was tun?
Aus dem Kühlschrank hatte sich die Sängerin eine Flasche San Pellegrino geholt. Sie trank das Wasser in langsamen Schlucken und durchwanderte die beiden großen Räume, die den Schlaf- und Wohnbereich bildeten. Ihre sonst so glatte Stirn war gerunzelt. Wenn sie nicht trank, nagte sie an ihrer Unterlippe, und etwas stand für sie sehr bald fest.
Mailand war nicht ihre Stadt.
Je länger sie blieb, desto größer würde ihre Furcht werden. Mirella wußte nicht, wie es nach dem Tod des Regieassistenten weitergehen würde und ob es noch zu einer Aufführung kam. Eigentlich war damit zu rechnen, denn die große Schau mußte auch in diesem Gewerbe weitergehen. Ihr Entschluß stand fest. Wenn schon, dann ohne sie.
Aussteigen, weglaufen, abfahren…
Drei Begriffe, die ihr nicht aus dem Kopf wollten, als sie vor dem großen Fenster stehenblieb und nach draußen schaute, ohne allerdings etwas zu sehen. Der ganze Theaterzirkus konnte ihr gestohlen bleiben. Sie würde auf ihre Art und Weise aus dem Vertrag aussteigen und es war ihr egal, was man über sie sagte und welche rechtlichen Konsequenzen der Vertragsbruch für sie haben würde.
Mirella war das Überleben wichtiger. In dieser Stadt fühlte sie sich nicht mehr sicher. Hier wurde sie bedroht, hier kam sie sich vor wie in einer Zuchthauszelle, die immer kleiner wurde, um sie schließlich zu zerquetschen. In Milano lauerte etwas. Ein unheimliches Wesen, ein Gespenst, das sie verfolgte, das einen anderen Menschen getötet hatte, als wollte es ihr durch dessen Tod eine Botschaft übermitteln.
Und Mirella Dalera hatte die Botschaft verstanden und wollte sich danach richten.
Mit einem scharfen Ruck drehte sich die Frau um. Wasser schwappte über den Glasrand und näßte ihre Hand. Es störte sie nicht. Sie trocknete die Haut nicht einmal ab.
Neben dem Telefon nahm sie Platz und rief an der Rezeption an. In einem Luxushotel wie diesem war man es gewohnt, fast alle Wünsche der Gäste zu erfüllen, man zeigte auch keine Überraschungen, wenn jemand einen Wunsch äußerte, zum Beispiel, früher abreisen zu wollen.
Mirella erklärte, daß es morgen früh sein sollte, und sie bat um die Rechnung.
»Naturalemente, Signora, das geht in Ordnung. Haben Sie sonst noch einen Wunsch?«
»Zwei, bitte.«
»Prego…?«
»Ich möchte, daß meine Abreise nicht bekannt wird. Zudem will ich mit dem Zug reisen. Besorgen Sie mir bitte eine Fahrkarte nach Napoli.«
»Das ist kein Problem, Signora.«
»Herzlichen Dank.«
»Und eine gute Nachtruhe wünsche ich Ihnen, Signora.«
Das hörte Mirella nicht mehr, denn sie hatte bereits den Hörer aufgelegt.
Tief atmete sie durch. Sogar lächeln konnte sie wieder, denn jetzt fühlte sie sich wohler.
Sie betrat anschließend das große Bad und ließ Wasser in die geräumige Wanne. Ob sie richtig gehandelt hatte, wußte sie nicht. Sie war ihren Gefühlen gefolgt, hatte ihnen nachgegeben. In ihrem persönlichen Fall war das am besten gewesen.
In der Wanne entspannte sie sich. Ihre Gedanken drehten sich weder um den gräßlichen Bajazzo, noch um John Sinclair. Sie dachte an etwas ganz anderes, an ihre Arbeit, an ihr Engagement und an die Kollegen, die sie im Stich gelassen hatte.
Sie schluckte. Das schlechte Gewissen meldete sich. Fast war sie versucht, nach dem Telefon zu greifen, um Carlo Furano anzurufen. Sie ließ es bleiben, es hatte doch keinen Sinn, er würde sie überhaupt nicht verstehen, er würde durchdrehen. Es war besser für sie, wenn sie ihm erst morgen Bescheid gab, dann war sie weit
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