Töte mich - Osborne, J: Töte mich - Kill Me Once
sie weiterhin an. Auch wenn ihre schlechten Erfahrungen dazu geführt hatten, dass sie privat jeden auf Armeslänge von sich hielt, hatte sie diese Art von Druck während der Arbeit nie gespürt. Zweifelsohne einer der Hauptgründe, warum sie so gerne arbeitete, während ihre Kollegen frei hatten und die Zeit mit ihren Familien verbrachten. Die Arbeit war für Dana eine Erleichterung, eine Zuflucht, wo sie sich auf das Leben und die Probleme anderer Menschen konzentrieren konnte und nicht an ihre eigenen dachte. Was nichts daran änderte, dass sie in letzter Zeit das Gefühl beschlich, mehr vom Leben zu erwarten. Einen liebevollen Ehemann vielleicht. Kinder. Einen weißen Jägerzaun mit hübschen Narzissen davor, die der Familienhund ausgrub, eine halbe Stunde nachdem sie sie eingepflanzt hatte.
Vielleicht ein andermal. In einem anderen Leben.
»Es gibt keinen Ärger, Ma’am«, sagte Dana zu der jungen Frau. »Ich brauche nur einen Moment Ihrer Zeit. Nur ein paar Minuten, versprochen.«
Die junge Frau öffnete die Tür ein wenig weiter und verlagerte das Baby auf ihrer Hüfte erneut. »Muss das sein?«
Dana nickte. »Ja, Ma’am. Es muss sein. Ich weiß Ihre Kooperation wirklich zu schätzen.«
Die junge Frau seufzte, öffnete die Wohnungstür ganz und trat zur Seite. »Also schön, dann kommen Sie rein, wenn’s nicht anders geht.«
Dana betrat die Wohnung und blickte sich um. Das Apartment war in tadellosem Zustand, und in der Luft hing der Duft frisch gebackener Zimtschnecken. Danas Magen knurrte laut und erinnerte sie daran, dass sie den größten Teil ihres Abendessens auf dem Teller in der überfüllten Bar hatte stehen lassen. Na ja, dafür war das Date mit dem geilen Buchhalter schneller zu Ende gewesen als befürchtet.
Das Mobiliar war alt, aber gut erhalten angesichts der Tatsache, dass die Stücke nicht zueinander passten und aussahen, als stammten sie aus einem Sears-Katalog aus den 1970ern. An der Wand über dem kleinen Tisch im Esszimmer hingen Bilder von Jesus und John F. Kennedy – die Standarddeko von Schwarzen, die während der Bürgerrechtsbewegung in den 1960ern volljährig geworden waren.
Dana hob überrascht die Augenbrauen. Sie hatte ein anderes Interieur erwartet. Heruntergekommener. Schäbiger. »Wohnen Sie hier?«, fragte sie.
Die junge Frau schloss die Tür und deutete auf die abgewetzte Couch mitten im Wohnzimmer. »Nein«, gestand sie, wobei sie das Zimmer durchquerte und das Baby in einem Laufstall neben dem Fernseher ablegte. »Die Wohnung gehört meiner Großmutter. Sie hat uns für ’ne Weile aufgenommen, bis ich wieder auf den Beinen bin.«
Dana nickte und setzte sich in die Ecke des Sofas. »Ist Ihre Großmutter zu Hause?«
Die junge Frau schüttelte den Kopf und setzte sich in die gegenüberliegende Ecke der Couch. »Nein. Sie liegt im Krankenhaus. Sie hat Krebs.«
»Das tut mir leid.« Dana rutschte ein Stück zur Seite; eine kaputte Feder piekste sie in den Hintern. »Bitte, sagen Sie Dana zu mir. Wie heißen Sie?«
Grundlagen der Befragungstechnik, Kapitel 2: Stellen Sie eine harmonische Beziehung zu Ihrem Gesprächspartner her, wann immer möglich. Stürzen Sie sich nicht zu früh auf die wichtigen oder komplizierten Fragen. Bringen Sie Ihr Gegenüber auf Ihre Seite und steuern Sie das Gespräch behutsam in die gewünschte Richtung, erst recht, wenn Ihr Gegenüber wenig gewillt scheint, mit Ihnen zu kooperieren.
Die junge Frau warf einen kunstvoll geflochtenen Zopf über ihre linke Schulter. Dana bemerkte sorgfältig manikürte, hellrot lackierte Fingernägel. »Ich heiße Tyesha.«
»Und wie heißt das Baby? Es ist wirklich ein süßes kleines Ding.«
Ein zaghaftes Lächeln huschte über das Gesicht der jungen Frau. Na endlich. »Sie heißt Tamara.«
»Wie alt ist sie? Sechs Monate?«
»Fünf.«
»Ihr erstes Kind?«
»Nein. Das vierte. Ich hab noch drei.«
Dana fragte nicht, wo die anderen Kinder waren. Es ging sie nichts an. Trotzdem versetzte es ihr einen Stich. Hätte sie nicht im Lauf der letzten Jahre ihre Beziehungen zu interessanten, liebenswerten Männern immer wieder von sich aus beendet, wäre sie inzwischen wahrscheinlich selbst bei ihrem vierten Kind. Mit achtunddreißig Jahren tickte ihre biologische Uhr nicht mehr ruhig vor sich hin. Sie donnerte in ihren Ohren wie ein außer Kontrolle geratener Güterzug.
»Hören Sie, Tyesha«, begann Dana. »Ich muss wissen, ob Sie in letzter Zeit irgendetwas Ungewöhnliches oder Merkwürdiges
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