Töte mich - Osborne, J: Töte mich - Kill Me Once
wie jung sie noch war.
Die Vietnamesin war mit ihren neunzehn Jahren drei Jahre jünger als ihre jüngste Freundin an der Uni. Doch weil sie dank ihrer überragenden Intelligenz die zehnte und elfte Klasse an der Highschool übersprungen hatte, befand sie sich im gleichen Semester wie Lindsey McCormick und Liza Alloway.
Nach außen hin schienen die drei jungen Frauen wenig gemeinsam zu haben. Ein oberflächlicher Beobachter hätte sie wahrscheinlich als Trio betrachtet, das so gar nicht zusammenpasste.
Lindsey war die Lauteste der Gruppe, gewissermaßen ihr Cheerleader. Hell, hübsch, schwungvoll und stets gut gelaunt. Eine Einser-Schülerin und Everybody’s Darling. Liza war der Wildfang des Trios – chaotisch, unordentlich, temperamentvoll, laut und ungestüm. Sie war auf einer Viehranch in Deer Trail, Wyoming, aufgewachsen. Die Sorte Mädchen, die unverblümt sagt, was sie denkt. Immer und ohne Rücksicht.
Ahn war von Natur aus scheu und zurückhaltend. Sie hatte sich nur langsam mit den beiden Amerikanerinnen angefreundet, nachdem diese sie beinahe über den Haufen gerannt hatten – buchstäblich, in dem Labyrinth aus Hinweistafeln in der Unibibliothek.
Sie waren alle auf der Suche nach dem gleichen Buch gewesen, einem Werk über Prinzipien der Krankenpflege, das die Uni – aus welchen diffusen Gründen auch immer – nur unter den missbilligenden Blicken der Bibliothekarin zur Einsicht freigegeben hatte. Die Frau wurde auf dem Campus nur »Oberschwester Ratched« genannt und war eine Art Berühmtheit, weil sie ihr schütteres silbernes Haar jahrein, jahraus zu einem erbarmungslos straff geflochtenen Zopf band, ohne Zugeständnisse an Temperaturen oder modische Trends.
Vier Stunden angestrengten Lernens waren gefolgt. Das Trio angehender Schwestern beschäftigte sich eingehend mit Puls und Blutdruck, diskutierte über Augendiagnose und die Zahl der Thrombozyten und versuchte, die komplizierten Geheimnisse der Blutzusammensetzung zu enträtseln, während sie sich zugleich bemühten, die gestrengen Blicke von Oberschwester Ratched zu ignorieren.
Als sie endlich genug hatten, sowohl vom Lernen als auch von Ratcheds Blicken, beschlossen die drei jungen Frauen, sich bei einem schnellen Drink in Sparky’s Place zu entspannen, einer Studentenkneipe in der Nähe, die vor allem deshalb so beliebt war, weil kaum einmal ein Ausweis vorgezeigt werden musste.
An der Theke wurde aus einem Bier ein zweites und ein drittes, und aus dreien wurden fünf, bevor die kleine Gruppe sich schließlich von ihren Hockern löste und ziemlich angesäuselt ein Taxi zurück zum Campus bestellte.
Es war eine fantastische Nacht, und ihre Freundschaft hatte sich in der Folge bis zu einem Punkt entwickelt, an dem Ahn die beiden amerikanischen Mädchen als die Schwestern betrachtete, die sie nie hatte. Lindsey und Liza empfanden das Gleiche für das vietnamesische Mädchen. Sie nannten sie »Annie«, seit Ahn irgendwann schüchtern nach einem Spitznamen gefragt hatte, der ihr helfen würde, sich »amerikanischer« zu fühlen.
Ahn lächelte vor sich hin. Nein, es war keine so schlechte Idee gewesen, die beiden Klassen an der Highschool zu überspringen. Doch das war Vergangenheit, und jetzt war Gegenwart – und sie hatte eine Verabredung mit ihren Schwestern. Sie wurde erwartet.
Zwanzig Minuten vergingen, bevor Nathan über sein Buch hinweg erneut einen Blick zu dem Mädchen warf.
Da saß sie, genauso atemberaubend und süß wie zuvor.
Er bekam eine Gänsehaut. Er konnte es kaum abwarten, so lange hatte er auf diesen Abend gewartet, und jetzt, da er endlich gekommen war, übermannte ihn beinahe die Ungeduld. Er musste sich zusammenreißen.
Seine Gedanken schweiften flüchtig zu Kelly und Jennifer. Er vermisste sie mit einem Mal so sehr, dass er glaubte, auf der Stelle mitten in der Bibliothek laut losweinen zu müssen.
Ich liebe euch, meine Mädchen. Bald ist Daddy daheim bei euch.
Nathan lächelte in dem Wissen, dass Dana Whitestone diejenige sein würde, die ihn auf den Weg zur lang ersehnten Wiedervereinigung schicken würde. Und er würde Dana – passend zu der besonderen Beziehung, die sie beide hatten – mitnehmen auf diesen Weg. Es war nur recht und billig. Sie hatte sein Leben gestohlen; im Gegenzug würde er ihr Leben stehlen.
Im Verlauf der Jahre hatte er die nun vor ihm liegende Nacht Millionen Mal durchlebt. Das Entsetzen, die Angst der toten Schwestern waren jedes Mal lebendig geworden, sobald er die
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