Töten Ist Ein Kinderspiel
spürte sie es am eigenen Leib. Bleierne Hitze schlug ihr entgegen, der Atem stockte für den Bruchteil einer Sekunde, bis sich die Lungen an die schwere heiße Luft gewöhnt hatten. Sie schaute sich kurz um, unauffällig und großflächig, jeden Ein- und Ausgang im Visier. Noch nie war sie angekommen, ohne von Inge abgeholt zu werden, zum ersten Mal würde sie mit dem Bus in die Stadt fahren. Bei ihrem letzten Besuch hatte sie ganz nebenbei gefragt, ob es eigentlich einen Flughafenbus gäbe, und Inge hatte ihr ebenso beiläufig die Bushaltestelle am Ernst-Reuter-Platz gezeigt.
„TXL. Steht für Tegel. Von hier steigst du in die U2, Richtung zu mir. Umsteigen in die grüne Linie am Wittenbergplatz und aussteigen am Schlesischen Tor. Falls du mich mal überraschen willst.“
Diesmal wollte sie Inge nicht überraschen. Sie wollte ankommen und zwar allein. Der Stadt, die für die nächsten sechs Monate ihr Zuhause sein sollte, langsam und ohne Begleitung begegnen. Diesmal war sie nicht zu Besuch hier, und dieses Gefühl wollte sie sich einen Tag lang erlaufen. Sich treiben lassen, Kaffee trinken, in Buchläden stöbern, eine Monatsfahrkarte kaufen – Dinge tun, die schon bald alltäglich wären und die sie deshalb besonders wertschätzen wollte. Mit der Aufnahme in das europäische Austauschprogramm war für Verónica Sánz ein Traum in Erfüllung gegangen. Dafür hatte die Subinspectora zwei Jahre lang an Lehrgängen teilgenommen, ein Fernstudium absolviert, Verwaltungsdeutsch gelernt und eine brillante Abschlussarbeit über den innereuropäischen Drogenhandel geschrieben. Das von der EU finanzierte Arbeitsstipendium in Berlin hatte sie aufgrund ihrer langjährigen Berufstätigkeit im Cuerpo Nacional de Policía und nicht zuletzt wegen Inge Nowaks Empfehlungsschreiben erhalten, das außerdem von Kriminaldirektor Helmut Frickel persönlich unterzeichnet worden war. Ob sie nach den sechs Monaten eine Anstellung im deutschen Polizeidienst bekäme oder tatsächlich Chancen hatte, sich auf eine der Planstellen von Europol zu bewerben, stand in den Sternen. Sicher war nur: Kein Weg würde sie zurück in das Büro von Comisario Javier Melilla in Granada führen. Eher zöge sie es in Erwägung, den Polizeiberuf an den Nagel zu hängen und ihren Lebensunterhalt anderweitig zu verdienen. Immerhin war sie zweisprachig, mit oder ohne Dienstwaffe.
Nachdem ausgezeichneter Absolvierung der Polizeischule hatte bereits Don Gustavo, oberster Polizeichef von Málaga, mit offenen Armen auf Verónica Sánz gewartet. Hätte sich die junge Polizeibeamtin auf ihren älteren Chef in der Weise eingelassen, wie er es gerne gehabt hätte, wäre sie wohl niemals in Granada im Vorzimmer von Melilla gelandet. Mehr aus Verzweiflung denn aus freiem Willen hatte sie ihrer glänzend begonnen Karriere den Rücken gekehrt und sich nach Granada versetzen lassen. Erschöpft, allein und auf ganzer Linie frustriert, fügte sie sich dort mit der Zeit ihrem Schicksal: Der Teil, den sie in dem kleinen Büro zur Verbrechensbekämpfung leistete, bestand vornehmlich darin, Kaffee zu kochen, die Berichte der anderen zu schreiben und sämtliche Telefondienste zu übernehmen. Innendienst rund um die Uhr, während ihre Kollegen zwischen Tatort und Besprechung in den Bars rund um die Plaza Major, auf die eine oder andere Tapita oder einen schnellen Cortado Halt machten. Vielleicht hätte sie sich langfristig damit abgefunden, denn solange sie nicht aufmuckte, schob sie das, was ihre deutsche Mutter „eine ruhige Kugel“ genannt hatte. Dann aber war Inge Nowak in ihr Leben getreten, und die deutsche Kommissarin hatte sie nicht nur privat herausgefordert. Ungewollt war Verónica zur Ermittlerin im Mordfall Maike Ebling und aus ihrem geplanten Urlaub in Marokko eine Verbrecherjagd in Deutschland geworden.
„Blut geleckt?“, hatte Inge sie nach der Aufklärung des Mordes, zu dem Verónica keinen geringen Teil beigetragen hatte, gefragt.
Ja, sie war auf den Geschmack gekommen, oder besser gesagt: Sie hatte sich erinnert, was sie einmal hatte werden wollen. Danach war alles ganz schnell gegangen, und nun war sie hier, fast am Ziel ihrer Träume.
Natürlich hatte die Tatsache, dass Inge in Berlin lebte, eine Rolle gespielt. Nach zweieinhalb Jahren Fernbeziehung wollte Verónica wissen, ob ihre Liebe für ein Stück gemeinsames Leben reichte.
„Und wenn ich dir auf die Nerven gehe?“
„Kann und will ich mir nicht vorstellen“, hatte Inge ohne Zögern
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