Töten Ist Ein Kinderspiel
gegen Aufmerksamkeit“, hatte Inge Nowak dem jungen Kommissar mit auf den Weg gegeben, als er kurz nach Dienstantritt seine ersten Zeugen befragen sollte. Bisher hatte seine Chefin damit Recht behalten.
„Soll ich Sie vorstellen?“, fragte ihn die Heimleiterin.
Er schüttelte den Kopf. „Schaff ich schon, danke.“
Je weiter er den Raum durchquerte, um so stiller wurde es, und als er schließlich vorne am Klavier stand, kam er sich vor, als stünde er vor einer Schulklasse im Sexualkundeunterricht.
Vertrauen schaffen.
Er räusperte sich unnötigerweise und hob an: „Guten Tag. Frank Erkner mein Name. Was ist denn das letzte Lied, das Sie zusammen mit der Frau Mangold eingeübt haben?“
Für einen Augenblick hätte man eine Stecknadel fallen hören können, dann redeten plötzlich alle durcheinander. Es dauerte eine kleine Weile, bis man ihm ein Blatt reichte, auf dem die Melodie in Noten aufgeschrieben war. Frank Erkner, der bis vor Kurzem noch in einer Jazzband gespielt hatte, setzte sich ans Klavier und improvisierte. Kurz darauf erschallte im Haus Hoch auf dem gelben Wagen , so laut und mächtig, dass selbst die Hörgeschädigten die Ohren spitzten.
Inge Nowak hatte Mühe, ihre Wohnung zu betreten. Neben ihrem vollschlanken Körper mussten zwei Plastiktüten aus dem Bio-Supermarkt mit den gesammelten Einkäufen gegen ihr schlechtes Gewissen durch die Tür: Jeder Zweifel daran, sich auf Verónicas bevorstehende Ankunft uneingeschränkt zu freuen, wurde mit einer Leckerei für die Freundin bestraft. Auf diese Weise war sie nun um viele spanische Delikatessen reicher und um etwa hundert Euro ärmer. Serrano, Rioja und Manchego waren zwar eindeutige Argumente für die Aufrechterhaltung ihres andalusischen Liebeslebens in den eigenen vier Wänden, doch zugleich ertappte sich die Kommissarin bei dem Gedanken, wie schön doch auch das Singleleben mit Tiefkühlpizza war. Fast schon auf der sicheren Seite, blieb sie mit dem Riemen ihrer Handtasche an dem Knauf hängen und die Erste Kriminalhauptkommissarin der Berliner Polizeidirektion 3, Abteilung Verbrechensbekämpfung, wurde unschön nach hinten gerissen und hielt sich nur mit Mühe auf den Beinen. Wäre sie in besserer Verfassung gewesen, hätte die Szene sie zum Lachen gebracht, so aber fluchte sie: „¡Mierda!“ Der zweite Versuch verlief glatt, sie stieß die Tür, ohne sich umzudrehen, mit der Ferse zu und stellte die schweren Tüten auf den Boden, bevor die bereits ausgeleierten Henkel endgültig ausreißen würden.
Verónica würde den Rest des Sommers, den ganzen Herbst und einen Teil des Winters bei ihr wohnen. Ein Praktikum in Deutschland absolvieren, als Teil des Austauschprogrammes europäischer Kriminalbeamter, an dem sie teilnahm. Sie würde nicht nur Inges Kollegin werden, sie würde auch ihr Bett, den Alltag und alle Wochenenden mit ihr teilen. Zu dem Gefühl, Verónica jeden Augenblick verlieren zu können, gesellte sich schleichend die Angst, ihre hart erkämpfte Freiheit aufgeben zu müssen. Morgens beim ersten Kaffee nicht einfach schweigen, abends auf dem Weg ins Bad nicht einfach alles fallen lassen zu können. Sich nach der Arbeit duschen zu müssen, nicht in heruntergekommenen Klamotten herumlaufen zu dürfen und vor allem – sich den Rückzug in die innere Stille einsamer Minuten am Küchenfenster nicht mehr zu gönnen. Zurück in den absoluten Wir-Modus zu fallen, war für Inge Nowak nach einer gescheiterten Ehe und zwei Beziehungen, die mehr Energie und Geld gekostet als Glück bereitet hatten, ein Alptraum. Die Kommissarin sehnte sich nach Zweisamkeit und fürchtete sie wie eine Naturkatastrophe.
Vor drei Jahren hatten sie sich ineinander verliebt und noch immer schien ihr Verónica wie ein Geschenk, das nur eine Leihgabe war. Ihre erste Liebe zu einer Frau war nicht nur ein unbeschreiblich romantisches Abenteuer, sie weckte auch jenseits erotischer Augenblicke eine Sehnsucht nach Nähe, die ihr unheimlich war. Am Anfang war sie zögerlich gewesen. Eine Wochenendbeziehung mit einer nahezu Fremden in Granada? Was sollte dabei herauskommen? Dabei war sie nicht sicher, was sie mehr fürchtete: eine Fernbeziehung oder die Tatsache, dass Verónica kein Mann war. Und dann der Altersunterschied. Mit Sicherheit würde sie früh in die Wechseljahre kommen und Verónica sich spätestens dann von ihr abwenden.
„Du spinnst, Mama!“, lachte Marit sie aus. „Bis du anfängst, ins Schwitzen zu kommen, hab ich schon drei Kinder! Du
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