Töwerland brennt
»Hendrik bringt die Post gegen zehn Uhr.«
»Wer ist Hendrik?«
»Der Briefträger. Der Getränkelieferant war auch hier. Gesehen habe
ich beide jedoch nicht. Und andere? Da müsste ich mich erkundigen.«
»Tun Sie das.« Esch zögerte mit seiner nächsten Frage, weil er die
Antwort ahnte. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mich mit Ihren Angestellten
unterhalten würde?«
»Warum?«
»Nun, der Erpresser muss ja kein Fremder sein.«
Harms war die Betroffenheit anzusehen. »Für meine Leute lege ich meine
Hand ins Feuer.«
Schon wieder dieser Spruch. Eigentlich müsste es in Deutschland von Menschen mit Brandblasen nur so
wimmeln.
»Deshalb möchte ich nicht, dass Sie mit ihnen sprechen. Das sieht
mir zu sehr nach Generalverdacht aus.«
Generalverdacht wäre aber manchmal angebracht, dachte Esch bei sich.
»Es könnte jedoch erforderlich werden, dass ich einen Blick in die
Personalunterlagen werfe – auch aus den früheren Jahren«, schob er nach.
Harms überlegte einen Moment. »Die sind vertraulich …«
»Und ich unterliege der Schweigepflicht«, warf Esch ein. Das stimmte
zwar, war in diesem Fall allerdings kein Argument. Schließlich handelte es sich um personenbezogene Daten, die mit
seinem Mandat – wenn man seine Nachforschungen
überhaupt so nennen konnte – nichts zu tun hatten.
»Eigentlich wäre mir das auch nicht recht …«
»Sie können es sich ja überlegen.« Ein weiterer Gedanke drängte sich
Rainer auf. »Sagen Sie, kennt das Erpresserschreiben außer uns beiden noch jemand?«
»Nein.«
»Und die anderen Briefe?«
»Auch nicht.«
»Dann sollten Sie sie sicher aufbewahren. Am besten in einer Plastikhülle.«
»Sie meinen wegen möglicher Fingerabdrücke?«
Der Anwalt nickte.
»Ich möchte nicht, dass die Polizei eingeschaltet wird.«
»Irgendwann werden wir das tun müssen.« Als der Anwalt Harms’
Gesichtsausdruck sah, ergänzte er schnell: »Spätestens, wenn wir wissen, wer
Sie erpresst.«
»Ach so. Ja, gut. Dann deponiere ich die Schreiben in meinem
Tresor.«
Harms wollte sich verabschieden, als Esch ihn erneut ansprach. »Herr
Harms …«
»Ja?«
»Ich bin jetzt seit einigen Tagen auf der Insel. Normalerweise
erhalten Anwälte in Fällen wie Ihrem einen Vorschuss. Wenn Sie also bei Gelegenheit …«
Harms schaute ihn erstaunt an. »Sie wollen Geld?«
»Ja, also das …«
»Selbstverständlich. Warum haben Sie das nicht sofort gesagt? Kommen Sie, wir gehen direkt zur Bank und ich
bringe das in Ordnung.«
»Das ist doch nicht nötig.«
Harms griff den Anwalt am Arm. »Doch, das ist es. Es sind außerdem
nur ein paar Schritte.«
Rainer musste nicht lange vor der Volksbank warten, dann kam Harms
zurück, einen Briefumschlag in der Hand. »Hier sind dreitausend Euro. Das
Honorar für zwei Wochen. Das müsste doch zunächst reichen, oder?«
Eschs Hand zitterte, als er den Umschlag in Empfang nahm. »Sicher«,
meinte er nur.
12
Frühjahr 1987
Knut
Nach ihrem missglückten Einbruch in den Kiosk waren die
beiden Jungen getrennt worden. Knut musste auf Weisung des Jugendamtes in ein
Kinderheim in der Nähe von Dortmund wechseln – Peter kam nach Bielefeld.
In dem neuen Heim war alles anders: Der Ausgang war streng limitiert,
Schulunterricht fand innerhalb des Geländes statt. Verstöße gegen die
Hausordnung und Schuldisziplin wurden
streng geahndet, mehrtägiges Ausgehverbot war eine der häufigsten Strafen.
Geschlafen wurde in Zimmern mit je acht Betten, wie beim Militär gab es einen
Stubenältesten, der als Stellvertreter der Erzieher auch nachts dafür zu sorgen
hatte, dass sich alle an die Regeln hielten. Im Unterschied zum Heimpersonal
allerdings setzte der Stubenälteste – der ausnahmslos nicht nur wirklich der
Älteste, sondern auch der Kräftigste war – auf körperliche Strafen. Kurz: Er
verprügelte seine Zimmergenossen bei jeder Verfehlung, war sie auch noch so
geringfügig. Die Erzieher billigten diese Form der Bestrafung stillschweigend
und sahen über deren Folge hinweg.
Knut lernte seine Lektion schnell. Schon am zweiten Tag – er
hatte sein Bett nicht vorschriftsmäßig gemacht – setzte es Prügel. Der Stubenälteste
schlug ihm mit der Faust heftig ins Gesicht. Die Oberlippe platzte und blutete
so stark, dass Knut in der Krankenstation nach einem Pflaster fragen musste.
Knut beschwerte sich bei den Erziehern über die Misshandlung. Dem
wurde zwar nachgegangen, da aber alle anderen Jungs auf seinem Zimmer die
Version des
Weitere Kostenlose Bücher