Toggle
wirklich gerne ihre Ruhe gehabt. So konnte sie überhaupt nicht darüber nachdenken, was sie in Hamburg machen sollte. Von Prützke wegzukommen war das eine. In einer fremden Großstadt anzukommen etwas ganz anderes. Außerdem fehlte ihr jetzt schon Jackie, ihr Russellterrier. Aber ihn hatte sie unmöglich mitnehmen können.
»Ne!«, lachte Kingfish. »Da gibt’s schon einige hübsche Extras. Wie vernetzt man zum Beispiel Computer, deren Besitzer viel zu vorsichtig sind, um sich so etwas zu trauen? Na? Ich verrat’s dir: Das Meer besteht aus Wasser, und Wasser sucht sich immer seinen Weg. Dann sucht sich mein Meer auch seinen Weg von selbst, dachte ich mir. Immer wenn jemand zu Toggle kam und eine Frage eingab, zog er anschließend einen unsichtbaren Wasserfaden hinter sich her. Bildlich gesprochen. Und da meine Fische sehr klein waren, ein paar Schnipselchen Code, reichte ihnen das, um hinüberzuschwimmen. Ich glaube, inzwischen gehört die Mehrheit aller Computer auf der Welt zu meinem Ozean.«
»Und wie merkt man das?«
»Kann man nicht merken! Nur wer aktiv mitspielt, sieht, welche Fische ihn gerade besuchen.« Er lachte vergnügt. »Manchmal bin ich auch dabei! Der Kingfish. Mich gibt’s nur einmal.«
»Wahrscheinlich besonders prächtig.«
»Kann man wohl sagen! Ist nach einem imposanten Vorbild gestaltet.«
Er deutete dezent zwischen seine Beine. Anna-Katharina verdrehte die Augen und schwieg demonstrativ. Pockennarbige Seegurke meinte Kingfish dennoch leise zu hören. Gekränkt verzog er das Gesicht.
Das war genug. Jetzt würde auch er seine Klappe halten.
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76
Valley Hills
Freitag, 30. Juli, 11 : 45
»Als Programmierer wisst ihr, was ein Trojaner ist«, sagte der Mann. »Und Trojaner gibt es nicht erst seit Erfindung des Mikrochips. Die Bezeichnung geht auf ein ehrwürdiges antikes Täuschungsmanöver zurück. Stellt euch also vor: Die größte Suchmaschine der Welt befördert rein zufällig, und ohne es selbst zu bemerken, das politische Vademecum des 21. Jahrhunderts ans Tageslicht. Eine Schrift von 1754. Sie wird nicht von Professoren, Parteifunktionären, Wirtschaftsbossen oder Journalisten entdeckt, sondern tröpfelt langsam übers Internet, über Tweets, Blogs und soziale Netzwerke ins öffentliche Bewusstsein. Stellt euch weiter vor, ein paar Studenten eines Seminars in Turin entdecken Ferdinando Galianis Buch als eine von vielen PDF – Dateien bei Toggle Books, vertiefen sich in dessen Gedankenfülle, werden davon entflammt und legen eine Fanseite auf Myface an. Wie lange wird es dauern, bis das Buch die Menschheit erreicht hat? Genau: höchstens ein paar Tage! Und wie lange würde es im Vergleich dauern, wenn es ein Professor an der Sorbonne, in Harvard oder Cambridge ausgrübe? Jahre? Jahrzehnte? Gäbe es überhaupt eine öffentliche Wahrnehmung, die über Fachaufsätze hinausginge?«
Die elektronische Versammlung ließ unbestimmte Geräusche vernehmen. Der Mann zog sich wieder ein Stück von der Bildschirmkamera zurück.
»Stellt euch vor, die Menschen lesen Galiani. Natürlich nicht den ganzen, das ist viel zu umständlich. Rasch kursieren Auszüge, Abstracts, vereinfachte Darstellungen, populäre Aufbereitungen. Man beginnt damit herumzuspielen. Spiel ist das größte Moment der Veränderung, Revolutionäre beginnen stets als Spieler. Die Menschen merken, dass es jenseits ihrer althergebrachten Vorstellung von Demokratie etwas gibt, das ebenso gut, ja besser als Steuerungsmodul funktioniert. Natürlich ist das, was im Galianitext steht, unausgereift, beinahe rührend simpel.« Die Augen des Mannes blitzten auf. »Aber erinnert euch an die ersten Digitalkameras … sie lieferten Bilder von beklagenswerter Qualität, Farbrauschen, Pixelsalat! Die Leute kauften sie trotzdem, um beim nächsten Modell wieder zuzugreifen, um sich von Apparat zu Apparat zu verbessern. Das ist die Logik der digitalen Revolution. Alles beginnt unbefriedigend, doch mit Aussicht auf visionäre Sprünge. Dieser Logik ist Toggle stets gefolgt. Was macht es da, dass die erste Formel von Galiani den Wert eines Menschen viel zu ungenau berechnet, um Gerechtigkeit zu erzeugen? Es ist ein Anfang. Dann kommt Hilfe von außen.Open-Source-Amateure übersetzen die Formel in einen modernen Programmcode, Blogger entwerfen eine praktische Maske, in die man nur noch seine Variablen eintragen muss, damit der Computer den Selbstwert errechnet. Eine Bedrohung für unser Projekt? Nein! Denn längst
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