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Gedanken fand Marivaux unaussprechlich niveaulos.
»Wir werden das Manuskript nicht zurückschicken«, entschied der Baron. »Wir werden es verbrennen.«
»Unbedingt«, pflichtete der Secrétaire perpétuel bei. »So erfüllt das Machwerk wenigstens den praktischen Zweck, uns zu wärmen!«
»Nehmen Sie mit heutigem Datum zu Protokoll«, befahl der Baron, während er ein Blatt ums andere dem Kaminfeuer überantwortete, »dass die Akademie dem Ansinnen des Einsenders nachgekommen ist und sein Manuskript nach Neapel zurückexpediert hat.«
»Ah«, machte Marivaux verständig, »das dient wohl den Akten!«
»Kein Ehrenmann fälscht das Buch der Geschichte«, sagte Montesquieu. »Wir machen es nur unleserlich.«
›Ging das Manuskript nach Neapel an Monsieur …‹, schrieb der Akademiesekretär: »Monsieur Feuerkopf?«
»Galiani«, knurrte Montesquieu.
»… Ga-li-a-ni zurück. So! Und wie viele Einsendungen sind jetzt noch für unseren edlen Wettstreit übrig?«
»Zehn. Plus eine von Rousseau, natürlich! Aber der bekommt den Preis nicht.«
»Das wäre ja noch schöner«, bekräftigte der Sekretär. »Da würde Ihre Majestät ja die Laus mit dem eigenen Blute säugen!«
Das letzte Blatt verglomm im Kamin. Nun schien Marivaux der geeignete Moment gekommen, die Gestaltung der näheren Zukunft in die Hand zu nehmen: »Würden Sie sich mit mir gemeinsam dafür einsetzen, Sire«, hob er vorsichtig an, »im nächsten Jahr einen hauptstädtischen Komödienwettstreit auszuloben, um das Unwesen provinzieller Wettbewerbe von der Wurzel her auszurotten?«
»Das wäre wohl angeraten«, pflichtete der Inhaber des Akademiesessels Nummer 2 bei. Langsam kehrte Farbe in sein Gesicht zurück.
Entschieden angeraten, dachte Marivaux. »Dann lassen Sie uns jetzt im Café Procope bei einer Partie Pharo aufwärmen!«, strahlte er. »Wie ich höre, soll Voltaire dort lange nicht mehr gesichtet worden sein.«
»Was Sie sich immer an Voltaire reiben müssen!«
Der Baron ließ das Kaminfeuer von seinen Lakaien löschen. »Neulich habe ich 20 Louisdor von ihm gewonnen. Am Spieltisch lässt ihn sein Scharfsinn gern im Stich.«
Nicht nur am Spieltisch, dachte Marivaux. Die Vorstellung vom Niedergang der alten Mächte, mit der Voltaire und seine Kumpane hausieren gingen, ließ sich nicht anders denn als Eselei bezeichnen.
Der unsterbliche Absolutismus war von absoluter Unsterblichkeit.
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13
Prützke
Donnerstag, 8. Juli, 10 : 00
Anna-Katharina hatte schon etliche Seiten im Leben aufgeschlagen, doch diese hier waren anders. Bei genauem Hinsehen ließ sich eine feine Prägung im Papier erkennen, ein Muster wie von einem Küchensieb, doch korrespondierte die Welligkeit und Rauheit der Oberfläche keineswegs mit dem, was die Finger ertasteten. Strich man vorsichtig über die Blätter hinweg, meinte man, ein seidenes Halstuch zu streicheln.
Sie hob das Buch zur Nase und sog dessen Geruch ein. Ganz entfernt erinnerte er an ihr Gymnasium am ersten Schultag nach den Sommerferien. Wenn das alte Gebäude sechs Wochen lang alle menschlichen Gerüche ausgedünstet hatte und nur noch nach sich selber roch – nach Holz, nach staubigen Fußböden, nach einer Zeit, in der es noch keine Kunststoffe gegeben hatte –, dann fühlte sie sich dort sogar einen Augenblick lang wohl. Es war der Trost, dass manche Dinge viele Menschengenerationen überleben konnten, ohne ihre Eigenart einzubüßen.
Der Geruch des Buches führte jedoch noch weiter zurück, in eine Zeit, in der man bei Kerzenlicht gelesen hatte, im Winter am offenen Kamin von Holzscheiten gewärmt wurde, sich selten wusch, dafür aber häufig parfümierte. All dies glaubte Anna-Katharina riechen zu können: den Kerzenruß, die Asche, den Schmierfilm ranziger Körperfette, den süßlichen Hauch eines Veilchenparfüms. Das Buch war 1782 gedruckt worden, sieben Jahre vor der Französischen Revolution. 229 Jahre hatte es unversehrt überlebt.
Sie klappte die Buchdeckel zu, strich noch einmal zärtlich über den beinahe fleckenlosen Einband und erhob sich von ihrem Schreibtisch. Dann stieg sie aus ihrer kleinen Mansarde in die Küche hinunter, wo ihre Mutter am Herd stand und kochte.
Sie kochte immer.
»Haben wir Alufolie?«, fragte das Mädchen.
»Drüben, in der Schublade. Kannst du mir heute im Garten helfen?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Du hast doch Ferien!«, sagte die Mutter scharf.
»Ich muss nach Brandenburg. Oder Lehnin. Oder Potsdam.«
»Oder,
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