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Auslobung der Hauptstadt, sondern ein übermütiger Ackerbürgerstreich des Senfstädtchens Dijon, das schon einmal den Unwillen des Königs auf sich gezogen hatte. Alle Einsendungen an dessen provinzielle Akademie – das reinste Küchenhilfenkabinett! – wurden deshalb heimlich mit Kurier nach Paris gebracht. Hier bemühte sich der Secrétaire perpétuel mit einer Handvoll Eingeweihter, den Schaden so gering wie möglich zu halten.
Senfkörner auszupressen, mit Kräutern und Essig abzuschmecken, darauf verstanden sich die Bürger von Dijon! Aber mussten sie auch zu politisch heiklen Fragen ihren Senf abgeben?
Das konnte nur in einer Katastrophe enden, und genau das tat es, wenn man distinktionslos nach dem Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen fragte.
Marivaux war von Beginn an angeekelt gewesen. Kein Mensch mitNiveau beschäftigte sich mit so abwegigen Gedanken! Der Ursprung der Ungleichheit lag in Gott. Was sollte also bei den Einsendungen anderes herauskommen als eine tiefe Verbeugung vor der Herrlichkeit des gottgesandten Königs und ein demütiger Kniefall vor dem unnachahmlichen Schöpfer, der so große Unterschiede gestiftet hatte, dass ein auserwählter Mensch das Leben aller durch bloße Strahlkraft erhellen konnte?
So wie ein Dichter das Leben seines Publikums erleuchtete.
Mit dem Regenten war es leider nicht weit her. Ludwig XV . hatte nur wenig vom Charisma des Sonnenkönigs geerbt.
Marivaux seufzte gequält.
Um wie viel mehr wäre der Nation mit einem Komödienwettbewerb gedient gewesen, der zum Beispiel eine treue Ehefrau in den Mittelpunkt gestellt hätte, eine Femme fidèle eben. Doch waren die Zeiten unterhaltsamen Dramatikern nicht gewogen. Selbst das Kollegium der 40 Weisen bei der Académie française zog neuerdings griesgrämige enzyklopädische Aufsätze heiteren Komödien vor. Und seit dieser dahergelaufene Voltaire – ein Mann, der sich selbst seinen Namen gegeben hatte, ein bürgerlicher Hochstapler und Heuchler – zu einem der Unsterblichen berufen worden war, gerieten die alten Werte immer deutlicher ins Schwanken. Immerzu war nur noch von den Verhältnissen die Rede, und damit meinte Voltaire, obwohl literarisch ein Schmutzfink, durchaus nichts Amouröses.
Auf seinen Diener gestützt, stieg Pierre Carlet de Marivaux die Treppe hinunter. Montesquieu hatte das Haus schon wieder verlassen und wartete in der Kalesche vor der Tür.
»Möchten Sie ein Plaid?« Ohne die Antwort abzuwarten, schob der hagere Baron dem Dramatiker eine karierte Decke zu. »Empfindlich kalt heute Morgen. In der Nacht hat es Bodenfrost gegeben. En avant!«, rief er seinem Diener zu.
Das Gefährt setzte sich in Bewegung.
Seit den glorreichen Zeiten des Sonnenkönigs residierte der Regent in Versailles, so dass der Louvre zur unvollendeten Bauruine herabgesunken war, in deren weitläufigen Fluchten sich finsteres Gelichter herumtrieb. Man sah Damen zweifelhafter Herkunft, die nicht nurdie Maler und Bildhauer besuchten, deren Werkstätten die großen Säle des Louvre durch Dreck und Arbeit entehrten; auch das eine oder andere Akademiemitglied stand im Verdacht, diesen Damen mehr als nur die Tür zu öffnen. Ein Schuhmacher, der seine Dienste im selben Schlossflügel anbot, in dem auch die vierzig Weisen tagten, hatte ein ehemaliges Boudoir geschmackvoll und komfortabel wieder hergerichtet und stand im Ruf, es stundenweise zu vermieten. Namentlich der Naturforscher und Mathematiker Leclerc de Buffon, Inhaber des symbolträchtigen Akademiefauteuils Nummer 1, galt als treuer Kunde des Schuhmachers. Man munkelte, er ließe sich lieber versohlen als besohlen.
Immerhin besaß die Akademie ein dichtes Dach und ein paar beheizbare Räume. Angesichts der vielen Schriften, die sie aufbewahren musste, war das kein Luxus. Für Sitzungen bei frostigem Wetter eignete sich der Ort allerdings nur bedingt. Obwohl zwei Bedienstete Montesquieus vorausgefahren waren und ein Feuer im Kamin entfacht hatten, fror der Secrétaire perpétuel schon beim Betreten der Räumlichkeiten jämmerlich.
»Was oder wer, lieber Baron, zwingt uns dazu, unter diesen unwirtlichen Umständen miteinander zu reden?«
»Ein junger Feuerkopf«, gab der Baron zur Antwort und begann etwas ratlos, die herumliegenden Papierstapel umzuschichten. Offenbar suchte er etwas. »Wie Sie wissen, lief vor einer Woche die Frist für den Prix de morale ab.«
Marivaux nickte: »Und dieser Feuerkopf beharrt nun darauf, dass wir entgegen der Regularien
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