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begann es auszuwickeln.
»He! Ich hab dich nicht zum Picknick eingeladen!« Die Freundlichkeit des Antiquars verschwand sofort wieder.
»Das ist nichts zu essen, das ist mein Buch.«
Obwohl es sie ekelte, wischte Anna-Katharina mit ihrem nackten Unterarm das Beistelltischchen ab. Zigarettenasche, Krümel und kleine Mörtelstückchen, die aus der Decke gebrochen waren, rieselten zu Boden. Dann bettete sie ihr Kleinod vorsichtig auf einen halbwegs sauberen Fleck. Der Antiquar bekam große Augen.
Sie klappte das Buch auf, las holpernd, die Silben falsch betonend vor: »Dei doveri dei Principi neutrali verso i Principi …«
»Das ist Latein.«
»Italienisch, denk ich mal.«
»Zwecklos, das kauft hier keiner.«
»Sie sollen es ja auch nicht verkaufen!«
»Stimmt.«
Der Antiquar mahnte sich innerlich zur Ruhe. Mit Direktheit war hier nichts zu gewinnen. Er leckte sich nervös über die Lippen.
Das Mädchen nahm das Buch wieder zur Hand, drehte den Buchblock zum Antiquar und deutete auf die halb aufgetrennte Falz des letzten Bogens.
»Das ist gerissen. Kann man das reparieren?«
Der Antiquar schaute verstört drein. Das Mädchen war nicht dumm, keine Frage. Aber wusste es wirklich nicht, dass einer verschlossenen Falz nur technische Bedeutung zukam? Dass Buchbinder früher keine ausreichend starken Papierschneidemaschinen besessen hatten, um den Buchblock in einem zu durchtrennen, dass sie diese Mühsal ihren Käufern überlassen hatten, die dazu Brieföffner oder spezielle Messer verwandten?
Der Antiquar konnte nicht einmal sagen, ob sich die Falz überhaupt wieder verschließen ließ. Wahrscheinlich ein aussichtsloses Unterfangen. Zumindest ein kunstloses, dem man die Reparatur sofort ansah. In diesem Fall konnte das Mädchen auch selbst einen Klebestreifen anbringen.
»Ich habe das Gefühl«, flüsterte Anna-Katharina mit tonloser Stimme, »dass dieses Buch verschlossen bleiben sollte.«
Sie war plemplem! Umso besser.
»Gut«, sagte der Antiquar. »Lass es hier.«
»Nein!«
Anna-Katharina betrachtete ihn misstrauisch. »Ich komme damit wieder. Und zwar an dem Tag, an dem Ihre anderen Bücher vom Buchbinder abgeholt werden. Wann wird das sein?«
Niemals, dachte der Antiquar.
»Heute Abend. Gegen halb acht.«
Der letzte Bus nach Prützke fuhr um sechs. Anna-Katharina rang mit sich. Der Typ war nicht sauber, das spürte sie. »Geben Sie mir ein Pfand«, sagte sie schließlich.
Der Antiquar machte eine großzügige Handbewegung: »Nimm, was du willst.«
»Bücher?«, fragte sie zurück.
»So viel du willst«, wiederholte er.
Es dauerte zwei Stunden, bis Anna-Katharina Loibl alle Lagerräume durchstöbert und im sehr speziellen Angebot des Brandenburger Versandantiquariats Sturm über Petersburg ein Dutzend Titel gefunden hatte, die sie interessierten. Dann brach sie mit schwerem Rucksack und einer Plastiktüte voller Bücher auf.
In der Tür drehte sie sich noch einmal um: »Wann kann ich mein Buch abholen?«
Niemals, dachte der Antiquar.
»In drei Wochen.«
Anna-Katharina schluckte. Sie las zwar schnell, aber so schnell nun auch wieder nicht.
»In sechs«, schlug sie rasch vor, »wenn die Ferien zu Ende sind! Dann bringe ich Ihnen alles zurück, und wir können den Rücktausch organisieren.«
Der Antiquar nickte. Zum ersten Mal seit Wochen strahlte er aus vollem Herzen. Die Naivität des Mädchens rührte ihn.
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15
Hamburg
Donnerstag, 8. Juli, 14 : 00
Die Tür zu Melissa Stockdales Büro stand sperrangelweit offen. Als Nikolaus Holzwanger eben eintreten wollte, hörte er seine Vorgesetzte sprechen, doch ihre aufgebrachte Stimme verriet, dass ihre Worte einem anderen galten: »Ich will keine Anrufe mehr, weder im Büro noch zu Hause! Das war ein einmaliger Ausrutscher! Völlig folgenlos für uns beide. Und damit basta!«
Holzwanger machte auf dem Absatz kehrt. In diesem Moment drehte sich Melissa um. Ihr Gesicht war vor Zorn gerötet. Mit einer herrischen Handbewegung befahl sie dem Personalchef zu bleiben.»Nein, nein, nein!«, fauchte sie in den Hörer, brach das Gespräch ab und schmetterte das Telefon in Holzwangers Richtung. Er konnte es gerade noch fangen.
»Männer«, zischte sie. »Hirnlose Muskelapparate!«
»Aber athletisch genug, herumschwirrende Telefone aus der Luft zu pflücken«, antwortete Holzwanger, dessen Statur alles andere als athletisch war.
Melissa kommentierte die Bemerkung nicht.
»Haben wir eine Verabredung?«, fragte sie
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