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Vorjahr des Vorjahres schon erzählten.«
Die Studenten lachten.
»Wir aber werden Neuland betreten. Wir lesen gemeinsam einen Text, den noch nie jemand in der Rechtswissenschaft zur Kenntnis genommen hat. Er stammt von einem großen, ja vielleicht sogar dem größten Neapolitaner des 18. Jahrhunderts …« Guiseppe Arcimboldo schien es ratsam, diesen Punkt herauszustellen. Es konnte ja sein, dass sein Auftraggeber den Seminarraum verwanzt hatte. Lokalpatriotismus war die Konstante im Selbstverständnis der Camorra, und der Dozent zweifelte nicht daran, dass Toggle Books nur eine vorgeschobene Legende war. Mit Sicherheit steckte ’O Sistema hinter den 10 000 Euro.
»Meinen Sie den Abbé Galiani?«, unterbrach ihn die Streberin.
Arcimboldo nickte verblüfft.
»Den kenne ich nur als Volkswirtschaftler.«
»Ich auch«, erklang eine Männerstimme.
»Ich auch«, schloss sich eine weitere Studentin an. »Ein früher Geldtheoretiker. Marx fand ihn gut, glaube ich.«
Der Turiner Dozent für Rechtgeschichte, Dottore Guiseppe Arcimboldo, fühlte sich in diesem Moment ein kleines bisschen dumm. Um dieses lästige Gefühl zu überspielen, wurde er resolut: »Bitte besorgen Sie sich alle bis morgen früh den Text ›Dei doveri dei Principi neutrali verso i Principi guerreggianti‹. Ich verrate nur so viel: In der Institutsbibliothek werden Sie ihn nicht finden.«
War das jetzt ein Hinweis zu viel gewesen?
»Das lässt sich doch toggeln!«, rief ein ziegenbärtiger Student in den Raum hinein. Die anderen nickten.
Das ging ja fix! Zum Glück hatte Arcimboldo sein Honorar schon erhalten. Falls es dem Auftraggeber zu fix ging.
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19
Mellau (Lobby)
Montag, 26. Juli, 10 : 30
Melissa Stockdale trug ein elegantes, graues Jil-Sander-Kostüm und wirkte damit in der Empfangshalle von Schloss Mellau, wo sich Menschen in Wanderbekleidung mit solchen im Ralph-Lauren-Freizeitdress und Dritten in Bademänteln mischten, wie ein Mitglied der Hotelgeschäftsleitung. Dass sie ständig Neuankömmlinge begrüßte, verstärkte diesen Eindruck noch.
Für Businesstagungen war Mellau eigentlich ungeeignet. DasSchloss besaß weder Seminarräume noch mit der nötigen Hightech ausgestattete Konferenzsäle. Es war ein Wellness-Ressort höchster Qualität, mit dem sich weltweit nur drei Dutzend andere Hotels vergleichen ließen.
Allerdings erfreute es sich eines soliden Rufs als Stätte des öffentlichen Streits. Bei Vorträgen und Diskussionen fasste der ehemalige Tanzsaal 200 Menschen, was für sich genommen nicht viel war, jedoch durch die geschickte Auswahl von Vortragenden für erheblichen Wirbel zu sorgen vermochte. Weit über die Landesgrenzen hinaus galt Mellau als Ort elitärer, manchmal sogar bösartiger Intellektualität, und wenn man eine Notiz über das Hotel in der Presse entdeckte, konnte man davon ausgehen, dass sich dahinter ein politischer Sprengsatz verbarg.
Besonders durchschlagend waren in der Vergangenheit die Vorträge von Reimar Dijkerhoff gewesen. Als ordentlicher Philosophieprofessor und damit staatlicher Beamter tat er, was ein Beamter unter keinen Umständen tun durfte: Er erklärte den Staat zur verkommenen Einrichtung. Wer Steuern zahle, ohne auf dem Überweisungsformular deutlich anzumerken, dass er sich damit lediglich dem Druck organisierter Bandenkriminalität beuge, mache sich selbst zum Mitglied dieser Bande. Der offensichtliche Widerspruch zu seiner eigenen Lage – schließlich lebte er von Steuergeldern – hatte ihm in Zeitungskommentaren den Titel des ›Pitbull, der nur spielen will‹ eingebracht.
Dieser philosophische Wadenbeißer betrat nun die Lobby des Hotels. Melissa ging auf ihn zu: »Professor Dijkerhoff?«
Trotz seines Alters nahe der sechzig trug der Philosoph schulterlanges, stets ungewaschen wirkendes Haar, und sein blonder Schnauzbart machte ihn zur unverwechselbaren Gestalt. Da er jede zweite Woche im Fernsehen auftrat, vermochte er aus dem fragenden Tonfall Melissas nur eine gewollte Provokation herauszuhören.
»Sie sind wohl neu, Mädchen«, schnarrte Dijkerhoff. »Mich kennt hier jeder, vom Zimmermädchen bis zum Sommelier. Bringen Sie meinen Koffer hoch in die Montaigne-Klause. Oder delegieren Sie das besser, die letzten zwei Etagen schaffen Sie ohne Aufzug ja nicht.Und sagen Sie dem Gallier im Auto draußen, dass ihm niemand einen roten Teppich ausrollt. Er scheint das zu erwarten.«
Zum Glück kam eine etwas dralle Empfangsdame im Dirndl
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