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herbeigeeilt, die den Stammgast erkannt hatte: »Ach, das ist ja eine Freude, den Herrn Professor wieder bei uns zu haben! Nein, dass der Herr Professor so lange nicht mehr da gewesen ist! Wenn wir gewusst hätten, dass sich der Herr Professor unter den Gästen befindet, hätten wir selbstverständlich alles wie immer vorbereitet.«
Sie warf einen giftigen Blick auf Melissa. Dass Toggle Inc. mitten in der Hochsaison den kompletten Südflügel des Schlosses mit seinem spektakulären Blick aufs Gewittersteinmassiv gemietet und andere Gäste unter der Beteuerung von hohen, dennoch unhöflichen Kompensationsleistungen herauskomplimentiert hatte, erschien ihr wie ein Sakrileg. Der Gast war immer König, ganz gleich ob er zu Hause ein Reihenmittelhaus bewohnte oder einen Palast besaß, und das Diktat des größeren Geldbeutels zerstörte die mühevoll aufrechterhaltene Balance zwischen aristokratischer Inszenierung und Gleichheit an der Kasse, die für Luxushotels dieser Klasse typisch war. Der gut situierte Zahnarzt sollte sich so privilegiert fühlen wie der Milliardär, auch wenn beide in der Realität Welten trennten.
»Sie haben eine Suite im zweiten Stock«, sagte Melissa. »Der Blick ist berauschend.« Sie streckte ihm erneut die Hand hin. »Willkommen bei Toggle Inc.! Ich bin Melissa Stockdale und organisiere die Konferenz.«
»Ich habe keine Suite, wo auch immer«, obstruierte Dijkerhoff auch diesen zweiten Begrüßungsversuch. »Ich beziehe die bescheidene Montaigne-Klause, widrigenfalls trägt mich der vor der Tür parkende Sohn des Kephalos und der Eos, in der Überlieferung des Euripides Sohn des Helios und der Klymene, zurück nach München.«
Dieser Mann war eine Zumutung.
Melissa reagierte sofort, um ihm keine Gelegenheit zur weiteren Selbstdarstellung zu geben: »Das ist überhaupt kein Problem, Herr Professor! Selbstverständlich kriegen Sie die, äh … Montaigne-Klause.« Sie wandte sich an die Empfangsdame: »Nicht wahr?«
»Professor Dijkerhoffs angestammtes Refugium«, entgegnete diesepikiert, »ist leider anderweitig belegt. Es handelt sich um das oberste Turmzimmer, das der Herr Professor die Freundlichkeit besaß, in Montaigne-Klause umzubenennen. Eigentlich heißt die 512 bei uns Himmelskammer. Sie ist nämlich ein bisschen eng und normalerweise Künstlern und Vortragenden vorbehalten.«
»Einerlei«, brummelte der Philosoph. »Wir Könige der Lüfte, die wir im Geiste hausen und nicht in Häusern herumgeistern, bevorzugen den perspektivisch höchsten Punkt der Welt. Nur so können wir die an uns gestellten Aufgaben lösen.«
»Dann lassen Sie dieses vermaledeite Turmzimmer doch räumen! Worauf warten Sie noch?«, herrschte Melissa die dralle Hotelangestellte im Dirndl an.
»Sehr wohl.« Die Empfangsdame verzog keine Miene. »Jemand aus Ihrem Stab wohnt darin. Ein Walter Weinberger.«
Melissa konnte nur hoffen, dass ihr Patenonkel in seiner Zeit als Fliegeroffizier genug Himmel gesehen hatte und nicht auf die Kammer des Philosophen bestand. Dijkerhoffs Stimmung besserte sich freilich schlagartig: »Vergessen Sie den Gallier da draußen nicht«, intonierte er näselnd und zog dabei eine schadenfrohe Miene. »Sonst verwandelt er sich vor Zorn in eine vermoderte Périgord-Trüffel.«
Jetzt endlich dämmerte es Melissa: »Sie meinen Professor Ranchin?«
»Den Titel können Sie getrost weglassen«, belehrte sie Dijkerhoff. »Er ist bei ihm nicht gerechtfertigt.«
Wenn das so weiterging, war Melissa am Ende der Woche tot. Diese Art von High Potentials überstieg entschieden ihre Kräfte.
Fuhr man die Privatstraße zum Hochplateau von Mellau durch Mischwälder und blühende Almwiesen hoch, passierte man an Kilometer 4,1 einen Gipfelpunkt, von dem aus sich der Blick auf das breite, von mächtigen Alpenfelsen eingerahmte Tal öffnete. Die meiste Zeit des Jahres lag das Schlosshotel im Sonnenschein, denn die umliegenden Berge warfen erst gegen Abend ihre gezackten Schatten. Diese einmalige Lage verlieh dem Hotel eine Aura aus Abgeschiedenheit und Erhabenheit, wenngleich dunkle historische Flecken die Aura ein wenig trübten. Obwohl weniger als 100 Jahre alt, hatte Mellau schonschwere Tage erlebt. Von einem religiösen Sektierer mitten im Ersten Weltkrieg erbaut, der das Schloss als theosophische Thingstätte für sich und seine Anhänger nutzte, war es im Zweiten Weltkrieg zum Soldatenerholungsheim zweckentfremdet worden und hatte nach 1945 als Lazarett der Alliierten gedient, die es
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