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schließlich in ein Refugium für Holocaustüberlebende umwandelten.
In den Fünfzigerjahren erhielten die Erben des Sektierers das Schloss wieder zurück und verwandelten es in ein Hotel. Doch noch Jahrzehnte später schwebte der Geist des Gründers über dem Ort. Nach Mellau fuhren bevorzugt Menschen, die ein Herz für raunende Esoterik und lauwarme Gemeinschaftserlebnisse besaßen. Tanzabende im Stile des 18. Jahrhunderts waren Pflichtprogramm und stießen unter den Gästen mehr auf Begeisterung denn auf Protest. Wenn jemand seufzend »die Mellau« von damals heraufbeschwor, dachte er an eben diese Zeiten. Ein gnädiger, von missgünstigen Konkurrenten aber durchaus nicht als Zufall gewerteter Großbrand hatte diesem Treiben freilich ein Ende gesetzt, und alle Gäste, die den nach der Jahrtausendwende auf Ruinen errichteten Neubau besuchten, sprachen in Unkenntnis der Geschichte nur vom »Schloss Mellau«. Das kleine sprachliche Detail unterschied die unwissenden Wellness-Urlauber von den alten Stammgästen, wobei Letztere langsam ausstarben, weil das Hotel inzwischen einer betuchten Wirtschaftselite vorbehalten war. Diese dachte beim Wort ›Spiritualität‹ bestenfalls noch an den Dalai Lama.
Dass sich Toggle Inc. zur Imagerettung des Booksearch-Projekts ausgerechnet dieses Ortes bediente, hätte mehrere Gründe haben können: praktische, weil das Ambiente Ruhe und Konzentration versprach; psychologische, weil ein Aufenthalt in einer solchen Luxuswelt für die meisten Menschen wie ein Bestechungsgeschenk wirkte, oder glamouröse, weil es dem protzigen Gebaren von Weltkonzernen entsprach. Bei Toggle ging die Wahl des exquisiten Tagungsorts freilich auf einen anderen Grund zurück.
Einen höchst privaten.
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Mellau (Tanzsaal)
Montag, 26. Juli, 14 : 00
»Sie werden gleich einen schöneren Anblick als mich genießen, wenn Miss Stockdale Sie begrüßt.«
Walter Weinberger, der nichts mehr hasste, als überflüssige Worte zu machen, hatte es sich dennoch nicht nehmen lassen, als Keynote Speaker die Konferenz zu eröffnen.
Der Tanzsaal war gerammelt voll. In der Mitte des Raumes thronte ein Podest, auf dem die Teilnehmer des Hearings wie in einem Boxring saßen. Zwei Stühle waren leer. Professor Joachim Sterzel steckte vor München im Stau, und der Vertreter der katholischen Kirche hatte die Einladung weder bestätigt noch explizit abgesagt.
Rund um den Boxring hatten sich Journalisten und Abgesandte von Datenschutzverbänden und Lobbygruppen postiert, insgesamt rund 150 Leute. Die meisten von ihnen hielten Kopfhörer mit Infrarotempfängern in den Händen, da niemand alle Konferenzsprachen verstand.
Auf der eigentlichen Bühne an der Stirnseite des Raumes befand sich eine riesige, von einem Videobeamer angestrahlte Leinwand, die ein mannshohes Toggle-Logo zeigte. Auf Weinbergers Rat hin hatte Melissa die anwesenden Fotografen und Kameraleute so verteilt, dass sie bei Aufnahmen der Hearingteilnehmer das Logo immer mit ins Bild bekommen mussten.
»Da und dort habe ich das Wort ›Bestechung‹ raunen hören, als ich durch Ihre Reihen ging, verehrte Damen und Herren von der Presse«, hob Weinberger an. »Keine Frage, Schloss Mellau ist teuer – für uns, und für Sie auch! Viele von Ihnen könnten sich nicht mal ein Wochenende hier leisten. Aber wir bestechen niemanden! Wenn Sie Ihren Sitznachbarn fragen, werden Sie schnell herausfinden, dass nur Vertreter von unwichtigen Medien im Schloss wohnen. Die wichtigen Journalisten schlafen in Klais in billigen Pensionen, und die Bildzeitung – man sagte mir, das sei bei Ihnen das einflussreichste Blatt – haben wir in die Jugendherberge in Mittenwald gesteckt.«
Der Saal lachte.
»Trotzdem werden Sie alle nur Gutes über uns schreiben, weil wirnur Gutes tun. Don’t be evil , Sie kennen unsere Firmenphilosophie! Und um allen Scientology- und Freimaurergerüchten zuvorzukommen: Ja, wir wissen, dass ›evil‹ rückwärts gelesen ›live‹ ergibt. Denken Sie sich Ihren Teil dabei.«
Nikolaus Holzwanger runzelte die Stirn. Für seinen Geschmack ging Weinberger zu direkt in die Konfrontation.
»Luxus ist also nicht der Grund, warum wir uns auf Schloss Mellau versammeln. Gewiss, die Geistesgrößen, an deren Lippen wir die nächsten Tage hängen werden, verdienen es zweifellos, auf Rosen gebettet zu sein. Wobei –« Weinberger verzog das Gesicht. »Ich persönlich finde die Betten für den Preis entschieden zu hart! Aber das liegt
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