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Titel: Toggle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Felix Weyh
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in der Rückschau zu Schwärmereien führte. Davon würden sich weder die Journalisten noch die Toggle-Skeptiker freimachen können. Alle verstreuten sich im weitläufigen Gebäude von Schloss Mellau und genossen die Qualitäten des Wellness-Hotels.
    Nur einem waren sie vollkommen gleichgültig.

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    26
   Mellau (Südflügel)
Montag, 26.   Juli, 22   :   00
    Der Mann starrte in die Dämmerung hinaus. Aus dem luxuriösen Interieur seiner Suite im Südflügel machte er sich nichts, doch der imposante Anblick vor seinem Fenster beeindruckte ihn durchaus. Im roten Abendlicht verhießen die mächtigen Felshänge einen Schutz, dessen das schwache Menschengeschlecht grundsätzlich bedurfte.
    Der Mann respektierte die Natur. Mehr als die Menschen.
    Plötzlich hatte der Mann eine Vision.
    Er sah nicht mehr die ruhige Abgeschiedenheit eines Alpentals vor sich, sondern eine brausende, urbane Agglomeration, sah Hochhäuser, die aus dem Felsgestein herauswucherten, sah eine unermesslich verdichtete Bebauung nach Hongkonger Art, sah an Felsenaufgehängte Highways, waghalsige Brückenkonstruktionen und Hunderte von gläsernen Aufzügen, die an den Steinwänden hinauf- und hinabschossen.
    Er lachte vergnügt.
    Schon in seiner Jugendzeit hatte der Mann gelernt, sich die endlosen Stunden in der Schule, in denen man ihm nichts mehr beizubringen vermochte, dadurch erträglich zu machen, dass er aus imaginären Bausteinen Zukunftsszenarios zusammenbastelte. Vor seinem inneren Auge ließ er künstliche Zivilisationen erstehen. Lange bevor es so etwas Triviales wie SimCity gegeben hatte.
    Glaubte man den Überschwemmungsprophezeiungen der Klimaparanoiker, ließ sich der Vision hochalpiner Millionenstädte durchaus ein Promill Wahrscheinlichkeit zubilligen. Aber der Mann war lange genug Wissenschaftler, um jeder Art von Prognosen zu misstrauen. Die Wirklichkeit hielt immer eine überraschende Wendung parat. Mit der Klugheit der Natur rechnete keiner.
    Im Zimmer war es dunkel geworden. Der Mann knipste eine Stehlampe an, doch nichts passierte. Er tastete sich nach der Zimmerkarte ab. Als es noch hell gewesen war, musste er sie irgendwo abgelegt haben. Da er sie nicht fand, zog er seine Brieftasche hervor und steckte eine goldene Amex-Karte in den Kartenhalter neben der Tür. Das Plastik drückte einen verborgenen Mikroschalter herunter, und in der Suite flammten zahllose Lampen auf.
    Zugleich klingelte das Telefon. Die Stimme am anderen Ende war stark verzerrt. Für Handyhasser, zu denen sich der Mann durchaus zählte, war Schloss Mellau ein Paradies. Jetzt aber nervte ihn die schlechte Verbindung.
    »Es sind zwölf …ufe der …uch …ei erfolgt, alle im Anschluss ans … inar, zwischen elf und … Uhr«, klang es aus dem Hörer.
    »Wie viele Studenten hat dieser Arcimboldo?«
    »…lf«
    »Bitte?«
    »Zwölf.«
    »Einer fehlt also.«
    »Die Abrufe kamen immer vom …lben …rver. Er steht als öffentlicher Zugang in der Facoltà di …enza. «
    Der Mann überlegte. »Dann sind alle Seminarteilnehmer versorgt. Haben wir Zugriff auf Arcimboldos Computer?«
    »Wir erkennen ihn.«
    »War er drin?«
    »Nein.«
    Der Mann zögerte. »Das macht nichts«, entschied er. »Es ist gleichgültig, ob er den Text kennt. Wahrscheinlich ist es sogar besser, wenn er ihn nicht kennt. Wir setzen auf die jungen Leute.«
    »Wenn sie …cht zu brav …nd!«
    »Unsinn, alle Revolten der Geschichte wurden von Studenten angetrieben«, widersprach der Mann. »Das ist aktenkundig.«
    Langsam versank die Gewittersteinwand in der Dunkelheit. Der Mann legte sein Handy beiseite. In seinem Kopf verblassten die futuristischen Stadtentwürfe, und Fragen der Klimakatastrophe beschäftigten ihn sowieso nicht.
    Die Welt veränderte sich, zweifellos.
    Aber diese Veränderung würde immaterieller Natur sein.

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    27
   Turin
Dienstag, 27.   Juli, 9   :   00
    Auch am zweiten Tag des Seminars blieb die Klimaanlage in der Facoltà di Giurisprudenza ausgeschaltet. Vor jedem Teilnehmer lag ein imposanter Papierstapel, und schon flüchtiges Hinsehen verriet Guiseppe Arcimboldo, dass es sich dabei um den Text aus dem 18.   Jahrhundert handelte. Zu seinem Entsetzen stellte der Dozent allerdings auch fest, dass der Stapel nicht nur überall vorhanden, sondern in einem Fall sogar mit gelben Haftnotizzetteln gespickt war, was für einen obszönen Arbeitseifer sprach.
    Arcimboldo hasste es, wenn Studenten besser sein wollten als ihre akademischen Lehrer.

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