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Axel Jünger kam mit einer schmuddeligen Reisetasche die Treppe herunter und stieß in der Lobby mit Urs-Albert Flüeli zusammen. Der Ex-Diplomat strich sich ungerührt das Jackett glatt und nickte dem Journalisten zuvorkommend zu.
Auf diese Begegnung hatte er gelauert.
Jünger musterte den Anzugträger mit Abscheu. Das war sicher eines dieser arroganten Arschlöcher, die den Lauf der Welt bestimmten, dachte er verbittert. So ein Toggle-Aufsteiger, den Aktienoptionen zum Millionär gemacht hatten! Und jetzt konnte er ihn nicht mal in seinem Artikel herunterputzen, weil er sich dazu hatte verführen lassen, seine neutrale Position aufzugeben.
So ein Ärger!
Gleich nach der Veranstaltung hatte ihm die verbiesterte Kollegin von der Süddeutschen signalisiert, dass sie seine »verschwörungstheoretisch schillernden« Ausführungen in den Mittelpunkt ihres Berichts stellen würde. Und über wen berichtet wurde, der durfte selbst nicht mehr berichten – erstes Reinheitsgebot der Presse.
»Sie sind doch der mit den Zwischenrufen«, meinte Urs-Albert Flüeli zutraulich. »Welches Blatt?«
»Frankfurter Allgemeine.« Jünger ließ die Reisetasche zu Bodengleiten und deutete aufs Logo seiner Zeitung. Die Tasche stammte aus den Restbeständen einer längst verjährten Abonnentenwerbung. Er war nur freier Mitarbeiter, simpler Fußsoldat, weit weg von allen Offiziersvergünstigungen.
Flüeli zwinkerte ihm zu. »Ihr Glück! Mit denen hab ich keine Rechnung offen. Wenn Sie mir versprechen, dass Sie die nächsten Jahre kein Wörtchen über jemanden schreiben, dessen Namen ich Ihnen unterwegs nenne, nehm ich Sie nach Klais mit. Sie haben es doch eilig, zum Bahnhof zu kommen? Oder irre ich mich da?« Er zwinkerte ihm verschwörerisch zu.
Jünger runzelte die Stirn.
»Deal or no deal?«, fragte Flüeli, als biete er seinem Gegenüber die ultimative Fluchtmöglichkeit aus einem Hochsicherheitstrakt an.
»Deal«, knurrte Jünger missmutig. Auf Mellau hatte er nichts mehr verloren. Mit einer schlaffen Bewegung griff er erneut nach seiner Reisetasche und folgte dem geschniegelten Angeber nach draußen. Das Emblem auf dem Wagenschlüssel versprach einigen Komfort.
Wenigstens das.
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38
Mellau (Park)
Dienstag, 27. Juli, 14 : 05
Olga hatte es sich mit ein paar Modezeitschriften dicht an der Kante des oberen Plateaus bequem gemacht. Ihr Liegestuhl war behaglich, ein orangener Sonnenschirm spendete Schatten, und wenn sie auffällig genug mit den Armen wedelte, kam sogar ein Kellner von der Sonnenterrasse herüber und brachte ihr etwas zu trinken.
So ein Luxusleben war nicht zu verachten.
In der Senke, dreißig Meter unter sich, sah Olga ihren kleinen Bruder herumstreunen. Wie eklig diese Eidechsenschwänze waren, mit denen er sich behängt hatte! Hoffentlich blieb er ihr so fern wie die beiden achtjährigen Zwillinge, die sich den ganzen Tag über an die Fersen der reichlich unterbeschäftigten Kinderbetreuer hefteten.
Aber Joshi kam näher. Als er den steilen Hang hinaufgekeucht war und vor ihr stand, drehte sie angewidert das Gesicht zur Seite. Doch er scherte sich nicht darum, denn er strotzte vor Empörung: »Im Bach sind keine Krokodile!«
»Natürlich nicht. Wer hat dir denn den Quatsch erzählt?«
»Dafür liegt ’ne tote Frau im Bach«, sagte Joshi.
»Auch Quatsch«, gähnte Olga. »Der Forchbach ist so flach, da können nicht mal Kinder drin ertrinken. Die kühlt sich bestimmt nur ab. Ist ja schon wieder richtig warm geworden.«
»Mit dem Gesicht nach unten?«
»Komm, hau ab!«, sagte Olga genervt. »Ich betreibe Studien für meine Lifestylenews auf Myface.« Sie pochte auf die Modezeitschriften in ihrem Schoß. »Geh in den Kinderclub, da gibt’s mindestens noch drei andere Fünfjährige.«
»Alles Mädchen«, protestierte Joshi, machte sich aber davon. Olga versuchte sich wieder auf ihre Zeitschriften zu konzentrieren, doch es gelang ihr nicht. Eine tote Frau! Jetzt musste sie aufstehen, nur weil diese Nervensäge von kleinem Bruder unter Hirngespinsten litt.
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39
Mellau (Tanzsaal)
Dienstag, 27. Juli, 14 : 10
»Nicht zufällig gemahnt uns der Begriff Schatten an einen berühmten Text von Platon«, sprach Joachim Sterzel im Tanzsaal vor dem inzwischen beinahe komplettierten Auditorium. Auf der Bühne fehlte nur noch Helene Siebenhofer.
»In seinem Höhlengleichnis aus dem siebten Buch der Politeia demonstriert der griechische Philosoph die Begrenztheit
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