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unserer Wahrnehmung, indem er behauptet, wir sähen nicht die Welt an sich, sondern nur das Schattenspiel, das von ihr an die Wand geworfen werde. Mit einigem Nachdruck lässt sich sagen, dass wir dieses Stadium, gefesselt in einer Höhle zu liegen und nicht zu den Quellen der Erkenntnis vordringen zu können, lange hinter uns gelassen haben. Wir sehen nicht mehr nur die Schatten der Phänomene, wirsehen die Phänomene selbst. Schatten gibt es allerdings immer noch. Denn inzwischen werfen wir Schatten. Digitale Schatten.«
Er machte eine kleine Pause.
»Eigentlich wollte ich an dieser Stelle weiter über Platon reden, aber der Zwischenruf des Herrn, den ich jetzt leider nirgendwo mehr entdecke …« Er ließ seinen Blick über das Publikum schweifen, schüttelte dann enttäuscht den Kopf, »… legt eine Änderung meines Vortrags nahe. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an Wikileaks erinnern, jenen romantischen Bund, der meinte, es dürfe auf der Welt keine Geheimnisse mehr geben? Wikileaks stellte diplomatische Geheimdepeschen ins Netz, und die Welt lachte sich über brüskierte Regierungschefs tot. So dachten Botschafter also wirklich über die Zustände in ihren Gastländern! Aber zwischen Totlachen und Totschlag verläuft nur ein schmaler Grat. In manchen Staaten versteht man solche Späße nicht, und ich kann Ihnen versichern, durch diese Attacke auf die Privatsphäre sind wir dem Dritten Weltkrieg näher gekommen als durch die Anschläge des 11. September. Dass der digitale Schatten existiert, ist indes nur die Hälfte der Lektion, die wir zu lernen haben. Die andere lautet, dass man ihn nicht vom Körper seines Schattenspenders ablösen darf.« Er holte tief Luft. »Sein Eigenleben wird uns allen gefährlich.«
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40
Mellau (Forstweg)
Dienstag, 27. Juli, 14 : 15
»Hier geht’s aber nicht nach Klais«, wunderte sich der Journalist, als Urs-Albert Flüeli direkt hinter der Tiefgaragenausfahrt scharf rechts in einen Forstweg einbog.
»Mittenwald hat auch einen Bahnhof.«
»Und hier kommt man mit dem Auto durch?«
»Das ist zwar ein Bentley«, sagte Flüeli und empfand in diesem Moment Genugtuung darüber, dass sein Arbeitgeber nicht besonders heikel war, »aber wenn man seine Qualität nicht hin und wieder überprüft, ist er sein Geld auch nicht wert.«
Axel Jünger war es gleichgültig, wo er den Zug nach München erwischte. Der Komfort des Bentley war wirklich erstaunlich. Auf der Rückbank bekam man von der Unebenheit des Fahrwegs kaum etwas mit. Plötzlich trat der Schweizer auf die Bremse.
»Was ist?«, fragte der Journalist.
»Haltestelle Waldmeisterlichtung.«
Aus einem Gebüsch trat ein Mann im schwarzen Anzug hervor. Er öffnete die Beifahrertür und schlüpfte ins Auto.
»Alles okay?«, fragte Flüeli.
Der Mann nickte. Flüeli drehte sich zu seinem anderen Fahrgast um: »Sergej sammelt so gerne Pilze, selbst im Regen! Kann man in der Ukraine guten Gewissens ja nicht tun. Langzeitwirkungen von Tschernobyl.«
»Schon klar.« Was gingen Axel Jünger die Waldspaziergänge eines Bodybuilders an?
Der Schweizer fuhr wieder los. Nach ein paar Minuten sagte er: »Sie erinnern sich an unseren Deal?«
»Verschwommen.«
Flüeli trat sofort wieder auf die Bremse.
»Na klar tue ich das«, beeilte sich Jünger zu versichern. Irgendwas schien sich von einer Sekunde auf die andere verändert zu haben. Die Luft knisterte.
»Der Name lautet Jewgenij Jacob Fünfgeld.«
»Nie gehört.«
»Möglicherweise könnte er im Zusammenhang mit Toggle auftauchen. Außer natürlich in Ihren Artikeln. Genauso wenig wie Sie einen Zusammenhang zwischen Jewgenij Jacob Fünfgeld und der Firma Myface Inc. sehen.«
»Und wenn ich doch –«
»Wissen Sie«, hob Flüeli an und schaute unbeirrt auf den Forstweg vor sich, »es gibt drei Stufen der Vernichtung. Erst kommt die Vernichtung der öffentlichen Existenz. Daran sind Leute wie Sie beteiligt, wir Opfer nennen es Rufmord. Die zweite Stufe ist die Vernichtung der bürgerlichen Existenz, man entzieht Ihnen die materielle Basis. Schadensersatzklagen wirken da wahre Wunder. Am Ende steht die dritte Vernichtung, die der physischen Existenz. Ich kannIhnen versichern, schon die erste Stufe ist sehr unangenehm. An die dritte wollen wir gar nicht denken.«
Der Mann, den der Schweizer Sergej genannt hatte, drehte sich zu ihm um und lächelte.
Nur so ein Lächeln.
Scheiße, dachte Axel Jünger. Ein kalter Schauer jagte seinen Rücken
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