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Titel: Toggle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Felix Weyh
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zweite gebeichtete Krankheit gibt es noch 2 Punkte, für die dritte 1 Punkt. Insgesamt also vermag ein Kranker auf den Basiswert von 16 zu kommen, der augenscheinlich den des Gesunden übertrifft.
    So überstimmen Kranke stets die Gesunden?
    Nein!
    Denn die Krankheiten verkörpern naturgemäß ihrerseits einen Malus. Er droht den Bonus zu verzehren, und über das Ausmaß dessen wird der Abstimmende im Unklaren gelassen. Für ihn erhebt sich somit die Frage, ob er besser auf den sicheren Wert von 10 setzt … oder ob er das Wagnis eingeht, mit einer oder mehrerengebeichteten Bresten darunterzurutschen? Keine leichte Entscheidung! Dem unzweifelhaften Wagnis steht nämlich die verlockende Aussicht gegenüber, deutlich über dem Basiswert zu landen. Denn nicht jeder Katarrh, nicht jede Hautabschürfung zieht gleich so gravierende Entwertungen nach sich, dass ein Drei-Punkte-Bonus entscheidend gemindert würde.
    Ich treibe ein heimtückisches Spiel mit der menschlichen Seele, indem ich sie vor eine unlösbare Entscheidung stelle?
    Nun, meine Menschenkenntnis lässt mich annehmen, dass eine überwältigende Mehrheit das Risiko wählt, da uns der Hang zum Spiele innewohnt wie dem Mann der Drang zum Weibe.
    Es war 3.30 Uhr. Die Menschenkenntnis des Turiner Dozenten reichte aus, um dem Traktat eine glänzende Karriere vorauszusagen: Niemand würde es gänzlich lesen – auch er brach hier unwiderruflich ab! –, doch viele würden daraus Energie beziehen, um die Welt in eine falsche Richtung zu drängen. In eine Richtung, die mit altehrwürdigen Idealen nichts mehr zu tun hatte, eine Richtung, in der Arcimboldo und seine Freunde keinen Einfluss mehr haben würden, eine Richtung, deren Zielpunkt völlig unvorhersehbar war. Arcimboldo machte sich keine Illusionen über seinen Wert als Mensch. Als Handlanger von ’O Sistema konnte er in einem System, dass über formale Gleichheit hinaus auf Handlungsweisen und Charakter sah, keine guten Karten haben.
    Blieb ihm eine andere Wahl, als das Buch zu verbrennen?
    Dazu musste er es zuvor freilich zerstückeln. Auf dem Küchentisch lag noch das Steakmesser mit Wellenschliff, und der Rechtshistoriker begann, die teure Preziose zu zersäbeln.
    600 Euro!
    Es tat ihm in der Seele weh. Immer wieder nahm er ein Bündel handtellergroßer Papierstücke, trug sie ins Badezimmer und stopfte sie in den seit Jahren nicht mehr gebrauchten Warmwasserofen, der noch mit Holz und Kohle befeuert wurde. Die kleinen Fetzen verbrannten anstandslos zu streng riechender, weißgrauer Asche. Auf dem letzten Fetzen las er Galianis Abschiedsworte:
    Wenn Du, verehrter und unübertrefflicher Leser, diese Preisschrift in den Händen hältst und ob der bezwingenden Klarheit ihrer Gedanken in Wallung gerätst, so bin ich möglicherweise schon tot. Im Porto Mercantile befinden sich – wie in jedem anständigen Hafen – ein paar illustre Freudenhäuser, die ich meinem Rang als Abbé zum Trotz gerne und mit Begeisterung aufsuche. Dort, erzählt man in der Stadt, wütet gerade wieder ein Fieber, und sollte dieses Fieber auch mich dahinraffen, so weiß ich doch, dass ich der Menschheit einen Stachel ins Fleisch gebohrt habe, den sie so leicht nicht wird entfernen können.
    Arcimboldo spuckte in die heiße Asche. Zischend verdampfte die Flüssigkeit. Dann blickte er erschöpft auf seine rußverschmierten Hände, die mehrere kleine Schnittwunden davongetragen hatten. Eine bleierne Müdigkeit überfiel ihn, doch Schlaf kam nicht infrage. Denn wozu war das Buch fürs Internet präpariert worden, wenn nicht als Teil eines umfassenden Plans?
    Genau diesen hatte er wahrscheinlich gerade vereitelt.
    In großer Hast raffte er ein paar Kleidungsstücke zusammen, stopfte sie in eine Reisetasche, legte seine zehn Lieblings- CD s obenauf und verließ die Wohnung an der Via Claudio Beaumont. Als er in der kühlen Morgenluft vor dem Haus stand, überfiel ihn der nackte Katzenjammer. Mit seinem kargen Judaslohn ließ sich nie und nimmer eine dauerhafte neue Existenz außerhalb der Reichweite desjenigen errichten, den er sich durch sein impulsives Handeln zum Feind gemacht hatte.
    Er tat sich selbst leid.
    Sehr, sehr leid.

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Vierter Teil
Beunruhigung

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    Das Gehirn der Welt rechnete. Von überallher trafen im Millisekundentakt Fragen ein, die unmittelbar nach überallhin verteilt wurden, denn das Gehirn der Welt überspannte alle fünf bewohnbaren Kontinente. Riesige Rechnerfarmen in Bamako   /   Mali,

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