Tokio Killer 01 - Der erste Auftrag
Richtigkeit zu beweisen, indem sie andere Kulturen aggressiv dazu bekehren. In einem religiösen Kontext würde man ein solches Verhalten seinen Ursprüngen und Auswirkungen nach als missionarisch bezeichnen.»
«Eine interessante Theorie», gab ich zu. «Aber eine aggressive Einstellung gegenüber anderen Kulturen war nie ein amerikanisches Monopol. Wie erklären Sie die japanische Kolonialgeschichte in Korea und China? Die Versuche, ganz Asien vor der Tyrannei der Kräfte des westlichen Marktes zu bewahren?»
Er lächelte. «Sie sind schon wieder ironisch, aber Ihr Einwand ist nicht sehr weit von der Wahrheit entfernt. Es sind nämlich ebendiese Kräfte des Marktes – der Wettbewerb -, die Japan zu seinen Eroberungen getrieben haben. Die westlichen Nationen hatten ihre Interessen in China bereits abgesichert – Amerika hatte mit seiner Politik der ‹offenen Tür› die Ausplünderung Asiens institutionalisiert. Was blieb uns anderes übrig, als unsere eigenen Interessen durchzusetzen, wenn wir verhindern wollten, dass der Westen uns umzingelt und uns die Rohstoffversorgung abschnürt?»
«Seien Sie ehrlich», sagte ich, widerwillig fasziniert. «Glauben Sie das alles wirklich? Dass die Japaner den Krieg nicht gewollt haben, dass der Westen an allem schuld war? Die Japaner haben doch schon vor über vierhundert Jahren unter Hideyoshi Korea angegriffen. Wie kann der Westen denn daran schuld sein?»
Er blickte mich direkt an und beugte sich vor, die Daumen in seinen Obi, Gürtel, gesteckt, das Gewicht auf die Fußballen gelegt. «Sie haben nicht verstanden, was ich eigentlich sagen will. Die japanische Eroberung in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts war eine Reaktion auf die westliche Aggression. In früheren Zeiten gab es andere Gründe, sogar so niedere wie die Gier nach Macht und die Lust an Plünderungen. Krieg ist Teil der menschlichen Natur, und wir Japaner sind nun mal Menschen, ne? Aber wir haben niemals gekämpft und ganz sicher keine Massenvernichtungswaffen gebaut, um die Welt von der Richtigkeit einer Idee zu überzeugen. Das haben erst Amerika und sein falscher Zwilling, der Kommunismus, getan.»
Er beugte sich noch näher zu mir. «Es hat immer Kriege gegeben, und es wird immer welche geben. Aber einen intellektuellen Kreuzzug? Auf globaler Ebene, mit Unterstützung der modernen Industriewirtschaft, mit der Androhung des nuklearen Ketzertodes für die Ungläubigen? Das bietet nur Amerika.»
Das bestätigte die Diagnose, dass er ein spinnerter Reaktionär war. «Ich danke Ihnen für Ihre offenen Worte», sagte ich und verbeugte mich leicht. « Ii benkyo ni narimashita.» Es war sehr aufschlussreich.
Er erwiderte meine Verbeugung und trat bereits einige Schritte zurück. « Kochira koso.» Ganz meinerseits. Er lächelte, wieder mit sichtlichem Unbehagen. «Vielleicht sehen wir uns wieder.»
Ich sah ihm nach. Dann ging ich zu einem der Stammgäste, einem alten Hasen namens Yamaishi, und fragte, ob er den Mann, der gerade die Matte verließ, schon einmal gesehen habe. « Sbi-ranai», sagte er achselzuckend. « Amari shiranai kao da. Da kedo, sugoku tsuyoku na. Randori, mita yo.» Ich kenne ihn nicht. Aber sein Judo ist sehr gut. Ich habe euren Kampf gesehen.
Um vor dem Duschen noch etwas abzukühlen, ging ich nach unten in einen leeren Dojo im fünften Stock. Ich ließ die Neonlampen aus, als ich eintrat. In diesem Raum war es am schönsten, wenn er nur vom Vergnügungspark Korakuen beleuchtet wurde, der gleich nebenan im Lichterglanz erstrahlte. Ich verbeugte mich vor dem Foto von Kano Jigoro an der gegenüberliegenden Wand, machte dann ein paar Ukemi, Fallübungen, bis ich in der Mitte des Raumes war. Ich stand in der stillen Dunkelheit und blickte hinaus über den Vergnügungspark. Ganz leise konnte ich hören, wie die Achterbahn sich knarrend ihrem höchsten Punkt näherte, dann eine kurze Stille, dann das zischende Sausen in die Tiefe und das kreischende Lachen der Passagiere, das vom Wind weggefegt wurde.
Ich dehnte mich mitten im Raum, den Judogi nass auf der Haut. Ich war ins Kodokan gekommen, weil es die erste Anlaufstelle ist, wenn man Judo lernen will, aber genau wie mein Viertel Sengoku ist die Schule für mich sehr viel mehr geworden, als sie es anfangs war. Ich habe hier schon so manches gesehen: Ein grauhaariger alter Veteran, der seit einem halben Jahrhundert jeden Tag Judo macht, zeigt einem Kind in einem viel zu großen Gi geduldig, dass man bei einem Sankaku-jime das Bein
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