Tokio Killer 01 - Der erste Auftrag
Richtung Otemachi, wo man umsteigen konnte, um zur Omotesando und zum Blue Note zu fahren. Ein Omen, dachte ich und stieg ein.
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WENN MAN IN MEINER WELT SO lange überleben will wie ich, muss man so denken wie der Gegner. Gelernt habe ich das von den Gangs, die mich verfolgten, als ich ein Kind war, und verfeinert habe ich die Erkenntnis bei der SOG in Kambodscha. Man muss sich fragen: Wenn ich versuchen würde, an mich heranzukommen, wie würde ich das anstellen?
Berechenbarkeit ist der Schlüssel, und zwar geographisch und chronologisch. Man muss wissen, wo sich eine Person zu welchem Zeitpunkt befindet. Das stellt man durch Beobachtung fest; man analysiert den Weg zur Arbeit, die Zeiten, zu denen die Zielperson kommt und geht, bis man ein Muster erkennt und weiß, welche Engpässe die Zielperson so gut wie immer zu einem bestimmten Zeitpunkt passiert. Man sucht den angreifbarsten dieser Engpässe aus und plant dort den Hinterhalt.
Und dabei sollte man nicht vergessen, dass die ganze Zeit über irgendjemand die gleiche Art von Operation gegen einen selbst durchführt. Diese Überlegungen unterscheiden die schwierigen Ziele von den leichten.
Dasselbe Prinzip gilt auch für die Verbrechensprävention. Wenn man sich schnell Bargeld beschaffen wollte, wo würde man sich auf die Lauer legen? Wahrscheinlich in der Nähe eines Geldautomaten, und wahrscheinlich nachts. Man würde sich auch den richtigen Standort überlegen, irgendeine Stelle mit genug Fußgängerverkehr, um sich langes Warten zu ersparen. Aber zu viele Leute sollten es auch nicht sein, denn sonst traut man sich nicht zuzuschlagen, wenn man sich ein gutes Ziel ausgeguckt hat. Man würde sich ein dunkles Versteck suchen, weit genug vom Automaten entfernt, damit man von der Zielperson nicht gesehen wird, aber nah genug, um sofort zuschlagen zu können, wenn das Geld aus dem Automaten kommt. Eine Polizeiwache in unmittelbarer Nähe würde einen nervös machen, daher würde man sich vermutlich ein besseres Plätzchen suchen. Und so weiter. Wenn man so denkt, kennt man die Stellen, wo jemand einem auflauern könnte, und man weiß, wo man gefährdet ist, wo man besonders auf der Hut sein muss.
Bei Midori war nicht mal eine gründliche Überwachung erforderlich. Ihr Terminkalender war praktisch öffentlich. So hatte Bullfinch vermutlich gewusst, dass er sie im Alfie treffen würde. Und das wäre auch die einfachste Methode für Bennys Leute, sie zu finden.
Von Otemachi aus fuhr ich mit der U-Bahn Chiyoda-sen sieben Stationen weit bis zur Omotesando, wo ich ausstieg und die Treppe zur Straße hoch nahm. Von dort war es nur ein kurzes Stück zu Fuß zum Yahoo-Cafe, wo es Internetterminals gab. Ich ging hinein, bezahlte die Gebühr und loggte mich an einem Terminal ein. Mit dem Ti-Anschluss des Cafes dauerte der Zugriff auf die Datei, die Benny ins Net gegeben hatte, nur wenige Sekunden. Sie enthielt ein paar eingescannte Publicity-Fotos, Midoris Privatanschrift, die Termine ihrer Auftritte einschließlich desjenigen heute Abend im Blue Note sowie den Hinweis, dass die Sache «natürlich» auszusehen habe. Das angebotene Honorar betrug 150.000 Dollar in Yen -erheblich mehr als normalerweise.
Dass der heutige Auftritt im Blue Note, Beginn 19.00 Uhr, erwähnt wurde, war bedenklich. Berechenbarkeit, Zeitpunkt und Ort. Wenn sie vorhatten, Midori bald zu erledigen, wäre es eine Schande, sich die Chance heute Abend entgehen zu lassen. Andererseits hatte Benny mir gesagt, ich hätte achtundvierzig Stunden Bedenkzeit, was darauf schließen ließ, dass sie zumindest so lange noch in Sicherheit war.
Aber selbst wenn noch so viel Zeit war – ich hatte keine Ahnung, was ich tun konnte, um ihr eine angemessene Lebenszeit zu verschaffen. Sie warnen, dass jemand einen Killer auf sie angesetzt hatte? Versuchen konnte ich es, aber sie hatte keinerlei Grund, mir zu glauben. Und selbst wenn sie mir glaubte, was dann? Sollte ich ihr beibringen, wie sie ihre persönliche Sicherheit verbessern konnte? Sollte ich ihr die Vorzüge eines Lebens im Dunkeln anpreisen?
Lachhaft. Im Grunde blieb mir nur eines übrig. Ich musste die achtundvierzig Stunden nutzen, um herauszufinden, warum Bennys Leute Midori für ein Risiko hielten, und um die Gründe für diese Ansicht zu eliminieren.
Ich hätte den knappen Kilometer zum Blue Note zu Fuß gehen können, aber ich wollte vorher daran vorbeifahren, um mir ein Bild zu machen. Ich nahm mir ein Taxi und sagte dem Fahrer, er solle mich die
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