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Tokio Killer - 02 - Die Rache

Tokio Killer - 02 - Die Rache

Titel: Tokio Killer - 02 - Die Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Eisler
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dann nach rechts. Offenbar versuchte er sich zu orientieren. Ich weiß noch, dass ich mich fragte, ob er vielleicht von seiner Einheit getrennt worden war. Er sah ein bisschen verängstigt aus.
    Eigentlich waren wir angewiesen, jede Feindberührung zu vermeiden, aber wir hatten Befehl, Informationen zu sammeln, und er hatte ein großes Buch bei sich. Eine Art Ordner. Vielleicht eine hübsche Trophäe. Wir sahen einander an. Der Teamführer nickte mir zu.
    Ich kniete mich hin und hob meine CAR-15, nahm den Vietcong ins Visier und wartete darauf, dass er stehen blieb.
    Einige Sekunden vergingen. Ich wusste, dass ich Zeit hatte, und ich wollte mit dem Schuss kein Risiko eingehen.
    Er kniete sich hin und legte das Gewehr und das Buch ab. Dann erhob er sich wieder, machte seine Hose auf und pinkelte. Dampf stieg von der Stelle auf, wo die warme Flüssigkeit auf die Erde traf. Ich behielt ihn im Visier und dachte die ganze Zeit, dass er keine Ahnung hatte, was ihn erwartete, und dass es eine miese Art war zu sterben.
    Ich ließ ihn zu Ende pinkeln und die Hose wieder zumachen. Dann knallte ich ihn ab. Ich sah ihn fallen. Eine unglaubliche Hochstimmung erfasste mich. Ich hatte es geschafft! Ich war gut!
    Wir gingen zu der Stelle, wo er lag. Als wir ihn erreichten, sah ich erstaunt, dass er noch lebte. Ich hatte ihn ins Brustbein getroffen, und er hatte eine pfeifende Wunde in der Brust. Er war auf den Rücken gefallen, seine Beine waren gespreizt. Die Erde unter ihm war schon dunkel von seinem Blut.
    Ich erinnere mich noch, dass es mich erstaunte, wie jung er war. Er sah so alt aus wie ich. Gott, genau wie ich, schoss mir durch den Kopf, als wir um ihn herumstanden und nicht wussten, was wir tun sollten.
    Er blinzelte schnell, seine Augen sprangen von einem Gesicht zum nächsten und dann wieder zurück. Auf meinem verharrten sie, und ich dachte, es sei deshalb, weil er wusste, dass ich ihn niedergeschossen hatte. Später wurde mir klar, dass die Erklärung wahrscheinlich prosaischer war. Er konnte sich mein asiatisches Aussehen nicht erklären.
    Einer von uns schraubte eine Feldflasche auf und hielt sie ihm hin. Aber er machte keine Anstalten, sie zu nehmen. Sein Atem ging schneller und flacher. Tränen quollen ihm aus den Augenwinkeln, und er murmelte mit einer hellen, gepressten Stimme Worte, die keiner von uns verstand. Später erst erfuhr ich, dass Verwundete auf dem Schlachtfeld oft nach ihrer Mutter rufen. Vielleicht hatte auch er das getan.
    Wir beobachteten ihn. Die Brustwunde hörte auf zu pfeifen. Auch das Blinzeln hörte auf. Sein Kopf neigte sich in einem merkwürdigen Winkel zu dem nassen Boden, als lausche er auf etwas.
    Wir standen schweigend um ihn herum. Das anfängliche Hochgefühl war weg, verdrängt durch eine seltsam intime Zärtlichkeit und eine entsetzte Trauer, so jäh und schwer, dass ich tatsächlich aufstöhnte.
    Genau wie ich, dachte ich wieder. Er sah nicht aus wie ein böser Mensch. Ich wusste, dass wir in einem anderen Universum nicht versucht hätten, uns gegenseitig umzubringen. Vielleicht wären wir Freunde gewesen. Er läge jetzt nicht tot auf dem Boden des Dschungels, in seinem eigenen Blut.
    Einer aus unserem Team fing an zu weinen. Der andere begann zu stöhnen, Oh Gott, oh Gott, immer und immer wieder. Beide kotzten.
    Ich nicht.
    Wir nahmen den Ordner mit. Wie sich herausstellte, enthielt er einige ziemlich nützliche Informationen über Zahlungen des Vietcong an den Dorfvorsteher und über andere Versuche, sich Einfluss zu erkaufen. Obwohl das natürlich letzten Endes absolut keine Rolle spielte.
    Einer in dem Huey-Hubschrauber, der uns hinterher abholte, lachte und sagte, ich hätte meine Unschuld verloren. Keiner sprach darüber, wie es wirklich gewesen war oder was wir empfunden hatten, als wir stumm dastanden und dem Mann beim Sterben zusahen.
    Als die Army testen ließ, ob ich für das Gemeinschaftsprojekt von Sondereinsatztruppen und CIA, SOG genannt, geeignet war, interessierte sich der Psychologe besonders für meine erste Tötungserfahrung. Er hielt es anscheinend für bemerkenswert, dass ich unter den gegebenen Umständen nicht gekotzt hatte. Und dass meine, wie er es nannte, «negativen Gefühlsassoziationen» sich aufgelöst hatten. Keine schlechten Träume hinterher, auch das galt als Plus.
    Später erfuhr ich, dass ich als einer der magischen zwei Prozent Soldaten eingestuft worden war, die wiederholt töteten, ohne Zögern, ohne spezielle Konditionierung, ohne

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